„Die Israelis wollen nicht im Ghetto sitzen“, sagt Herr Sznaider

Frieden wegen der Demografie? In Israel scheint der rechte Likud-Block langsam die Wirklichkeit ins Auge zu fassen

taz: Herr Sznaider, Sie hatten kurz nach dem Wahlsieg des Likud im März 2001 analysiert, dass eine rechtsgerichtete Regierung eher den Frieden bringen wird als die Arbeitspartei. Ist das, was Vize-Premierminister Ehud Olmert vom Likud jetzt ankündigt, das, was Sie damals meinten?

Natan Sznaider: Im Prinzip schon. Was Olmert anbietet – den Abzug aus weiten Teilen der besetzten Gebiete –, würde ich als zionistischen Konsens bezeichnen. Die Juden sind, wenn man den Gaza-Streifen, Israel und das Westjordanland zusammennimmt, fast schon in der Minderheit. Jossi Beilin [von der linken Meretz-Partei, A. d. R.], Olmert und auch Premierminister Ariel Scharon treffen sich bei dem zionistischen Ethos, das jüdische Souveränität in einem jüdischen Staat mit einer jüdischen Mehrheit anstrebt.

1967 wurden die palästinensischen Gebiete aufgrund der demografischen Situation nicht annektiert. Können Sie mir erklären, warum sich nach dem Olmert-Interview alle Welt über Tatsachen aufregt, die seit 35 Jahren bekannt sind?

Das stimmt. Man hat in Israel nie daran gedacht, den Palästinensern die Staatsbürgerschaft anzubieten, aber es gibt Stimmen gerade auch auf palästinensischer Seite, die sagen: Lassen wir das doch mit dem eigenen Staat und warten wir ab. Die israelische Hegemonie wird sich nicht ewig halten können und dann werden wir irgendwann, wenn die Juden in der Minderheit sind, das Ganze übernehmen. Das ist wohl der springende Punkt, wo auch die Rechte aufwacht und nervös wird.

Die jüdischen Siedler zeigen mit ihrem Plan der Kantonisierung, dass es durchaus einen Weg gibt, Groß-Israel zu halten und trotzdem jüdisch-demokratisch zu sein.

Dieser Plan wird auch von vielen Likud-Mitgliedern getragen. Aber diese Leute begreifen nicht, dass es außer Israel und Palästina noch eine Welt gibt. Olmert weiß, wie wichtig der Außenhandel und die Beziehungen auch zu Europa sind. Eine Kantonisierung würde von der globalen Öffentlichkeit nicht getragen werden und übrigens auch nicht von einer israelischen Mehrheit.

Dann hat Olmerts plötzliches Umdenken auch etwas mit der internationalen öffentlichen Meinung zu tun?

Man spürt hier in Israel zunehmend den Gegenwind. Man kann dagegen den sicher bisweilen berechtigten Antisemitismus-Vorwurf erheben. Aber das israelisch-zionistische Projekt war auch ein Normalisierungsprozess. Das Gefühl, dass man wieder im Ghetto sitzt – das wollen viele Israelis einfach nicht mehr.

Israel wird also von der Demografie und der globalen Gemeinschaft zum Frieden gezwungen?

Unsere Wirtschaft steht kurz vor dem Zusammenbruch. Die Arbeitslosigkeit wächst, der Mittelstand bricht weg. Viel ist von dem Wohlfahrtsstaat nicht mehr übrig. Wir brauchen den Frieden.

Olmert will nun den einseitigen Rückzug der israelischen Armee. Wie viel taugt ein Frieden ohne Abkommen?

Ich hätte den Frieden auch lieber multilateral. Aber das scheint mir unmöglich zu sein. Man muss sich nur einmal die „Genfer Initiative“ ansehen, den Entwurf zu einem Friedensvertrag, der in Europa so groß gefeiert wird. Für Israel wäre das gar kein besonders guter Vertrag.

Warum nicht?

Es fehlt die Anerkennung Israels als zionistisches Projekt.

Der Entwurf spricht von einer nationalen Heimat für das jüdische Volk.

Das ist mir nicht genug.

Was denn noch?

Dass Israel ein jüdischer Staat ist. Aber gut, ich hätte auch ohne das leben können. Die „Genfer Initiative“ geht weit über alle bisherigen Angebote hinaus – und trotzdem wird der Vertrag von den Extremisten der anderen Seite als Verrat angesehen.

Sollte man den Palästinensern, die die „Genfer Initiative“ unterzeichnet haben, nicht wenigstens die Chance einräumen, die palästinensische Öffentlichkeit zu überzeugen?

Israels Rechte war im Zugzwang, sie wollte die politische Initiative zurückgewinnen. In den letzten Wochen ging es nur noch um Beilin und Genf. Die „APO“ betrieb die Friedens- und Außenpolitik. Wenn Olmert nun von einem einseitigen Rückzug spricht, heißt das nicht, dass das morgen passiert. Vor den Wahlen in den USA im November 2004 wird hier keiner einseitig abziehen. Was jetzt passiert, ist ein Diskurswechsel. Es wird eine neue Runde von symbolischer Politik eingeleitet.

Jitzhak Rabin wurde ermordet, weil er ein kleines, aber jüdisches Israel verfolgte. Ist es nicht furchtbar ungerecht, wenn der Likud den Frieden macht, für den die Arbeitspartei einen so hohen Preis bezahlen musste?

Was soll ich sagen? Ja, stimmt. Aber wenn man realpolitisch denkt, weiß man, dass solche Entscheidungen nur vom Likud getragen werden können.

Sie sind Soziologe. Erklären Sie, was hier passiert.

Es geht hier um eine existenzielle Entscheidung, die von der Mehrheit der Bevölkerung getragen werden muss. Das passiert nur, wenn der Likud darüber entscheidet, denn er wird von der Arbeitspartei unterstützt werden. Das kann mir gefallen oder nicht. Aber wichtig ist, dass wir hier zu Kompromissen kommen. Wer hinterher den Nobelpreis bekommt, ist vergleichsweise unwichtig.

INTERVIEW: SUSANNE KNAUL