Fenster zum Teufelsmoor

Otto Meier gehört zu den Top Five der deutschen Studiokeramik des 20. Jahrhunderts. Zu seinem hundertsten Geburtstag gibt es in Worpswede eine hinreißende Retrospektive in Grün und Braun

von REINHARD KRAUSE

Gerade hebt eine groß gewachsene, drahtige Worpswederin an, Susanne Meier zu erzählen, wie sie vor siebzig Jahren einer eindringlichen erzieherischen Maßnahme durch Susanne Meiers Vater Otto zum Opfer fiel. Da klappert eine Pferdedroschke an uns vorüber, auf dem Kutschbock ein Glöckchen schwingender Nikolaus, der zu einer Freifahrt einlädt. Susanne Meier sackt für einen Moment das Kinn herunter. „Das wird ja immer schlimmer hier“, entfährt es ihr. Was andernorts als vorweihnachtliches Normalprogramm hingenommen wird, scheint am Rande des Teufelsmoors allergische Reaktionen hervorzurufen. Hier gibt es bereits Nippes und Tand genug, da braucht es nicht noch mehr süßliche Animation. „Na, wenigstens will keiner mitfahren“, tröstet sie sich.

Ein strahlend sonniger Adventsonntag in Worpswede, dem Künstlerdorf bei Bremen. Während draußen, vor der Kunsthalle Netzel, touristisches Treiben herrscht, wogen drinnen subtile Grün-, Grau- und Braunschattierungen, verteilt auf 160 Keramiken, die aufs Prächtigste belegen, dass Otto Meier zu den Top Five der deutschen Keramik des 20. Jahrhunderts zählt.

„Bitte nicht berühren“ steht auf etlichen Zetteln – wohlweislich. Wer nämlich eine „Meier“ besitzt, dem kann es passieren, dass Besucher ihn fragen: „Darf ich die mal anfassen? Die sieht irgendwie so … schimmelig aus.“ Ein Laienurteil, das Otto Meier vermutlich gefreut hätte. Denn die Annäherung ans Organische, etwa an flechtenbewachsene Steine, zieht sich wie ein Leitmotiv durch sein Werk. Der Impuls, der mal samtigen, mal rauen, mal hochglänzenden Oberfläche mit den Händen nachzugehen, ist ein Kompliment für jeden Keramiker.

In der tags zuvor eröffneten Meier-Retrospektive heißt es also, sich zusammenzureißen und nichts anzufassen, nicht die satt grünen Tellervasen, die an Kaktusblätter erinnern, nicht die scheinbar kurz vor einem Wachstumsschub stehenden Schoten, Kapseln und Knospen, nicht die seidenmatten Pilze und Köpfe, nicht die Flaschen, Schalen oder unerklärlichen „Objekte“. Schade, dass man den Schöpfer dieses bizarren tönernen Gartens nicht mehr ein ums andere Mal fragen kann: Herr Meier, wie haben Sie’s gemacht?

Susanne Meier, die Tochter des vor sieben Jahren verstorbenen Töpfers, sowie eine Reihe von Sammlern und Museen haben zur Feier des hundertsten Geburtstags am 18. Dezember ihre besten „Meiers“ zur Verfügung gestellt. Ein Querschnitt durch siebzig Jahre Keramik – von den frühen, durch Bernhard Höttger beeinflussten expressionistischen Formen aus den Zwanzigerjahren über die klassische Phase als Mitglied der Werkstattgemeinschaft der „Sieben Faulen“ in der Bremer Böttcherstraße (bis 1939) und die hochgebrannten Steinzeuge bis zu den wuchtigen Porzellanquadern aus Meiers Sterbejahr.

So mancher Sammler in spe kam bei Meier nicht zum Zuge – sprich: gar nicht erst in die Werkstatt. Peter Hagenah, der seit mehr als fünfzig Jahren Keramikausstellungen kuratiert, kennt viele solcher Schilderungen: „Otto Meiers Persönlickeit war gelegentlich ein wenig schillernd, weil er außerordentlich empfindlich sein konnte. Wenn das überwunden war und man einen Draht zu ihm gefunden hatte, war er wunderbar. Wenn er aber spürte, dass nur das Merkantile im Vordergrund stand, konnte er sehr ablehnend sein.“

Ein eigenwilliger Mensch, der seinen Beruf mit einer Unbeirrbarkeit verfolgte, die manchen verschreckt haben mag. In seiner Werkstatt duldete er kein Radio, keinen Lehrling und keinen Zuschauer. Selbst Frau und Tochter wurden nur gelegentlich zur Hilfe gerufen, wenn es darum ging, einen besonders großen „Pott“ vorsichtig von der Töpferscheibe zu heben.

Auch wer Otto Meiers Arbeiten ausstellen wollte, brauchte einen spektakulär langen Atem – und durfte sich auf keinen Fall beirren lassen. Peter Hagenah gelang es erst 1973, die erste große Werkschau mit über hundert Stücken auszurichten, nach fünf Jahren Bangen und Hoffen. Im Jahr darauf teilte Meier einem anderen renommierten Galeristen mit, er sei jetzt siebzig und damit zu alt für eine solche Ausstellung. Eine köstliche Schutzbehauptung. Denn jetzt erst, aus der Worpsweder Beschaulicheit gelockt, begann seine allergrößte Zeit, kam sein endgültiger Durchbruch, die Zeit der hohen Brenntemperaturen und des Porzellans, kamen die großen Einzelschauen im Bremer Focke-Museum und im Keramion in Frechen. Und endlich kamen auch die Auszeichnungen – erst für innovative Gefäßformen (Westerwaldpreis 1982), dann, im Jahr 1988, für das Lebenswerk: der Ehrenpreis der Deutschen Keramik. Ein Preis, der bislang erst dreimal vergeben wurde.

Interessanterweise fällt Otto Meiers fulminanter später Aufstieg zusammen mit dem sonstigen Niedergang der Gefäßkeramik. Während junge Keramiker die Töpferscheibe verschrotteten und fortan nur noch „Kunst“ produzierten, zeigte Meier ganz andere und immer wieder neue Möglichkeiten, herkömmliche Gefäßformen zu überwinden.

Erst gegen Ende seines Lebens scheint Otto Meier die Skepsis gegenüber dem materiellen Wert seiner Arbeit abgelegt zu haben. Jahrzehntelang, erinnert sich Peter Hagnah, lagen die Endpreise für mittelgroße Unikate bei zwanzig, dreißig Mark. Serienproduktion lehnte Meier kategorisch ab. Als die Preise für Studiokeramik Mitte der Siebzigerjahre allgemein deutlich anzogen, musste Meier fast genötigt werden, teurer zu werden. „Na gut“, sagte der Töpfer schließlich, „statt dreißig fünfzig Mark.“ Und war immer noch spottbillig. Ein kleines Wunder, dass Otto Meier und seine zweite Frau Gisela, eine Handweberin, die Familie durch die langen mageren Jahre bringen konnten.

Hatte er sich allerdings entschlossen, eine Ausstellung zu machen, galt das gegebene Wort. Tochter Susanne erinnert sich amüsiert, wie sie ihrem Vater nach heftigem Hin und Her einmal ein Objekt abkaufen musste, weil er beharrte, er brauche das Stück für seine Ausstellung. So konnte es, mit rotem Punkt versehen, doch noch gezeigt werden.

Warum es ein so unkaufmännischer Mensch wie Otto Meier wohl im zunehmend touristisch werdenden Musterdorf Worpswede so lange ausgehalten hat? Ein Teil der Antwort liegt auf der anderen Seite des Ortes, hinter dem Weyerberg – dort, wo Otto Meier nach dem Krieg seine Werkstatt aufbaute und wo er gerne sagte, sein Fenster sei sein Fernseher. Wie von ihm bestellt, geht dort gerade die Wintersonne unter – glutrot, wie man es eigentlich im beginnenden Winter gar nicht für möglich hält – und taucht den Waldrand in ein rostiges Rot. Nicht Orange. Darunter, Weiß und Grün bizarr mischend, eine gefrorene Wiese.

Nach drei Minuten ist alles grau, dafür steigt hinter den Bäumen ein gewaltiger Vollmond auf. „Fehlen eigentlich nur noch die Rehe“, sagt Susanne Meier, und es ist nicht ganz klar, ob sie das nun ironisch meint oder nicht. Wie auch immer, keine sechzig Sekunden später steht da wirklich ein Reh in der Dämmerung, hell leuchtet sein Bauchfell. Das Reh und den Mond hätte Otto Meier sicher weggelassen, aber das Rostrot mit dem frostigen Grün kann man bestimmt auf einem seiner Pötte finden.

„Retrospektive Otto Meier“, Worpsweder Kunsthalle Friedrich Netzel, Worpswede, bis 18. Januar 2004. „Otto Meier. Werke aus der Böttcherstraße“, Kunstsammlungen Böttcherstraße, Bremen, bis 8. Februar 2004REINHARD KRAUSE, 42, ist taz.mag-Redakteur