Medizinische Illusionen

Placebos sind wirkstofflose Medikamente, die trotzdem heilen. Doch auch Pseudomedikamente, zeigen neue Studien, wirken nur, wenn die Rahmenbedingungen stimmen. Lehren für eine andere Medizin?

von ANGELIKA FRIEDL

Die Patientin klagte nach einer Bandscheibenoperation schon den fünften Tag über starke Schmerzen. Tabletten hiergegen blieben ohne jede Wirkung. Die Patientin war der festen Überzeugung, nur eine Injektion könne ihr helfen. Also injizierte ihr der Arzt eine Ampulle physiologische Kochsalzlösung. Noch während der Injektion entspannte sie sich und schlief friedlich ein. Als sie am nächsten Morgen erwachte, war sie fast schmerzfrei.

Ähnliche Geschichten kann wohl jeder Arzt erzählen. Sie sind die Grundlage für einen Begriff, der fast zu einem Mythos geworden ist und der seine wissenschaftliche Geburt 1955 in Amerika erhielt: „The Powerful Placebo“, der Bericht eines amerikanischen Arztes, der anhand von Studien errechnete, dass etwa 35 Prozent der Patienten auf Placebos reagieren. Seither erwies sich der Placebobegriff als dankbarer Platzhalter für alle von der Schulmedizin nicht anerkannten Heilverfahren. Heilerfolge der Homöopathie? Alles Placeboeffekte, meinten naturwissenschaftliche Skeptiker, alle Menschen sind eben in unterschiedlichen Ausmaß durch Suggestion beeinflussbar. Die Zahl 35 geisterte durch die Publikationen, einer schrieb vom anderen ab, in zahlreichen Studien wurde ein hoher Wirkungsgrad der Placebogabe behauptet, zuweilen war von siebzig Prozent die Rede.

Es kann dauern, bis fest gefügte Weltbilder ins Wanken geraten. Im Falle des Placebobegriffs dauerte es vierzig Jahre. 1995 veröffentlichte Gunver Sophia Kienle ein schmales Büchlein, „Der so genannte Placeboeffekt“, und zeigte auf, dass in keiner der aufgeführten Studien die Wirkung nachgewiesen war, dass vielmehr „das Ausmaß des Placeboeffekts durch unterschiedlichste Faktoren vorgetäuscht war“. Vor allem den natürlichen Verlauf von Krankheiten, also wenn sich nach einiger Zeit der Zustand der Kranken bessert, habe der amerikanische Arzt in seinem Modell nicht berücksichtigt. Schon Voltaire wusste ja: „Die Kunst der Medizin besteht darin, den Patienten zu unterhalten, während die Natur seine Krankheit heilt.“

Zwei dänische Wissenschaftler legten einige Jahre später nach. Sie nahmen Studien unter die Lupe, an denen außer der Medikamenten- und der Placebogruppe noch eine dritte Gruppe von Patienten teilgenommen hatten, die überhaupt keine Therapie erhielten. Der Vergleich brachte ein verblüffendes Ergebnis. Placebos hatten bei einer Reihe von Krankheiten keine messbaren Effekte. Nur bei Schmerzpatienten ergab die Auswertung, dass die Gabe einer „Zuckerpille“ die Symptome besser linderte als gar keine Pille.

Der Placeboeffekt – eine medizinhistorische Illusion? So weit will Professor Bruno Müller-Oerlinghausen nicht gehen. Er ist klinischer Pharmakologe und Vorsitzender der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft, vertraut mit der Aus- und Bewertung zahlreicher Studien. „Die Placebowirkung ist sicher überschätzt worden, denn sie ist immer auch Spontanremission und vor allem dieses Bündel, das so schwammig ‚unspezifische Faktoren‘ genannt wird“, erklärt er. Aber natürlich existiere das Phänomen.

Die unspezifischen Faktoren oder neudeutsch das Setting, das sind zum Beispiel der Ruf eines Krankenhauses, das Lächeln der Krankenschwester oder auch die Art und Weise, wie der Arzt dem Patienten seine Behandlung erklärt. Unter den Begriff Placebo subsumiert man aber gerne alles, was nicht durch die spezifische Wirkung eines Medikaments, einer Therapie erklärt werden kann. Dass psychische Einflüsse eine Rolle spielen, weiß man seit längerem, wie genau und wie stark diese wirken, ist noch nicht ausreichend erforscht. „Es ist versäumt worden, die Kontextfaktoren von der Wirkung der Placebopille zu trennen. Aber es erfordert auch einigen methodischen Aufwand, Versuchsanordnungen zu erstellen, die eine solche Unterscheidung ermöglichen“, so Müller-Oerlinghausen.

Mittlerweile ist bekannt, dass selbst der Geschmack und das Aussehen einer Substanz deren Wirksamkeit wesentlich beeinflussen können. Die pharmazeutische Industrie weiß das auch – und mischt ihren Präparaten Farb- und Geschmacksstoffe bei. Verschiedene Untersuchungen zeigten, dass blaue Scheinpräparate beruhigender wirken als rosafarbene. In einer Studie gaben gesunde Probanden an, rote und gelbe Kapseln seien stimulierend, während sie blaue Präparate meist als beruhigend einstuften. Farben scheinen auch die Wirkung eines echten Mittels zu beeinflussen, so wirkt ein grün gefärbtes Beruhigungsmittels besser als dasselbe Medikament in roter Kapsel.

Nicht ausreichend erforscht ist auch die Arzt-Patient-Beziehung. Einige Studien weisen darauf hin, dass einfühlsame Ärzte, die ihre Patienten in verständlichen Worten informieren, bessere Therapieerfolge erzielen als Kollegen, die mit Erklärungen geizen. Mit dem „Faktor Arzt“ lässt sich wohl auch erklären, dass der Erfolg eines Scheinpräparats um die Hälfte abnimmt, wenn man den Arzt darüber aufklärt, dass es sich um ein Placebo handelt.

Dem Einfluss des Arztes kann man vielleicht auch die Erfahrung zuschreiben, dass manches neue Verfahren einige Zeit nach seiner Einführung stark an Effektivität verliert, wenn es routinierte, nicht übermäßig engagierte Ärzte anwenden. Französische Forscher wiesen 1994 nach, dass allein die Beteiligung an einer Studie die Wirkung einer Therapie verstärken kann. Etwa hundert Krebspatienten nahmen an einer Doppelblindstudie teil. Eine Gruppe wurde informiert, Teil einer Studie zu sein, die andere erhielt Placebos oder Schmerzmittel ohne jeden Hinweis. Die stärkste Linderung verspürten die informierten Patienten. Bei ihnen wirkte das Placebo sogar stärker als das echte Schmerzmittel in der Gruppe der nicht informierten Patienten.

In den vergangenen Jahren brachte die Hirnforschung neue Erkenntnisse über den Zusammenhang von Stimmungen und Denkmustern mit physiologischen und biochemischen Abläufen. Es gilt heute als ziemlich sicher, dass Placeboreaktionen bei Schmerzpatienten auf die Ausschüttung von Endorphinen zurückzuführen sind. Bei Symptomen wie Schmerz, Bluthochdruck oder Parkinson konnten die einzelnen Nervenzentren nachgewiesen werden, über die Placeboeffekte wirken. Voraussetzung für den Erfolg ist in der Regel die Erwartung des Patienten, das eingesetzte Mittel werde helfen.

Einen spannenden Aspekt gewinnt die Diskussion, wenn man die Tatsache bedenkt, dass viele einstmals anerkannte schulmedizinische Verfahren heute als reine Placebos angesehen werden. Ein Beispiel ist die früher geübte Praxis, bei verengten Herzkranzgefäßen ein Blutgefäß im Brustraum abzubinden, um wieder mehr Blut durch die Gefäße fließen zu lassen. Zunächst mit großem Erfolg. Viele Kranke konnten endlich wieder nach langer Zeit Treppen steigen. Später stellte sich die Wirkungslosigkeit dieser Therapie heraus.

Berücksichtigt man, dass eine Reihe pharmazeutischer Präparate von Medizinern ganz offen als Placebo bezeichnet werden, stellt sich die gar nicht mehr so ketzerische Frage, warum wir nicht einfach auf einen Großteil der „Mittelchen“ verzichten. Wo doch offensichtlich die Arzt-Patienten-Beziehung und die therapeutische Umgebung entscheidenden Einfluss auf den Heilungsprozess haben. Billige Medikamente tun ebenso gut ihre Dienste, der Arzt als Schamane im weißen Kittel spricht mit einfühlsamen Worten, vielleicht durch Hintergrundmusik unterstützt, denn auch Musik soll ja heilen …

Allenfalls auf Mittel mit nachgewiesener starker therapeutischer Potenz wie zum Beispiel Insulin bei Diabetes könnten wir nicht verzichten. Eine schöne Vision, die nebenbei auch noch die Kosten unseres Gesundheitswesens senken würde. Es liegt leider auf der Hand, dass für Untersuchungen des psychischen Einflusses auf den Heilungsprozess nicht das große Geld bereitsteht. Mit Medikamenten lässt sich eben viel mehr Geld verdienen. Unter der Leitung von Müller-Oerlinghausen ist gerade eine große Studie beendet worden. Depressive Patientin werden eine Stunde lang sanft massiert, nach der kalifornischen Ganzkörpermassage. „Die Massage hat außerordentlich gute Auswirkungen“, berichtet der Wissenschaftler.

ANGELIKA FRIEDL, 44, lebt als freie Journalistin in Berlin