Rohstoff Kindheit

„Scratch Neukölln“: Mit dem Chaos zu spielen, ist eine Stärke der Berliner Choreografin Constanza Macras

Kinder sind Kinder, und Kinder sind Fantasien von Erwachsenen über den Preis, den sie für das Erwachsenwerden bezahlt zu haben glauben. Diese Stelle in der Vorstellungskraft zu besetzen, gibt ihnen Macht. Kinder nutzen, was ihnen an Bildern geboten wird, sei es vermittelt im Design von Turnschuhen oder in Popsongs.

„Scratch Neukölln“, die neue Performance von Constanza Macras, einer in Berlin arbeitenden Choreografin, nimmt die Kinder als die geborenen Raubkopierer. Die Kinder, das sind hier acht Schüler aus einer Grundschule in Neukölln, die Constanza Macras bei einem Ausflug der Volksbühne in die Kiezkultur kennen gelernt hat. Sie hat die Jungen und Mädchen, deren Eltern aus dem Libanon, Serbien und Polen nach Berlin kamen, aufgefordert, ihre eigenen CDs und Bewegungen mitzubringen; in der Hoffnung, damit jenen Codes den Puls fühlen zu können, mit denen sich ein soziales und kulturelles Milieu definiert.

Denn Constanza Macras sucht immer das Authentische im Fake: den Spielraum des Eigenen in der geliehenen Form zu vermessen. Das gelang ihr und ihrem Ensemble Dorky Park zuletzt wunderbar mit der Performance „Back to the present“ in einem leer stehenden Kaufhaus. Nach diesem Stück wurde sie von der Zeitschrift Ballettanz als Wunder und Hoffnungsträgerin der Berliner Szene ausgerufen. „Back to the present“ war ein Stück der Materialanhäufung und Verführung. Geschichten vom Ende wurden übereinander getürmt im alten Warentempel. Das konnte mit einer Erzählung, einem Lied beginnen oder dem Schrecken über eine vergessene Zimmerpflanze. Unglückliche Lieben, unglückliche Kindheiten, alles wurde weggesungen, weggesteppt, in Showdowns zerlegt, mit schrillen Stimmen und akrobatischem Körpereinsatz bearbeitet.

Doch was dort so gut funktionierte, Motive aus den Zitaten der Popgeschichte zu generieren und ihre Bedeutungen zu bearbeiten, bleibt in „Scratch Neukölln“ eher als Konzept stehen. Vielleicht, weil sich die Vorstellungen von Kindheit, die die Performer mitbringen, und die Selbstdarstellungswünsche der Kinder, die sich in Rap-Songs und virtuosen HipHop-Einlagen niederschlagen, nur berühren, aber nicht durchdringen.

Einen Vorteil aber hat die Unabgeschlossenheit der Form: Funktionalisiert werden die Kinder nicht. Sie wuseln nach Lust und Laune auf der Bühne herum; völlig angstfrei nehmen die Performer dieses Chaos an.

So kommt eher ein Pool von Ideen zusammen, was „Scratch Neukölln“ sein könnte: Da gibt es die Geschichten von Mädchen, die schwanger sind, und Mädchen, die abhauen, kolportiert als Gerücht. Da gibt es den Wunsch, jemand anders zu sein, der in skurrilen Szenen der Verwandlung verhandelt wird. In Songs wird die Kindheit zum melancholischen Horizont, zur Folie für den Lebensroman, zum programmatischen Grund des Scheiterns.

Doch diese Ebene bleibt oft unvermittelt stehen neben dem, was die Kinder mitbringen. Ihre Gesten, das starke Posieren der kleinen Jungen zumal, haben für die Erwachsenen oft einen besonderen Witz, weil es eine Parodie auf die künftigen Geschlechterrollen vorwegzunehmen scheint. Die Inszenierung betont das: Wenn die Jungen sich in der Akrobatik des HipHop übertreffen, die Bühne mit einem Gewitter von Saltos überziehen und im Headspin, der Drehung auf dem Kopf, einen Wettkampf starten, dann fegt eine Tänzerin zur gleichen Zeit peitschenknallend über die Bühne. Das ist zugleich Zirkus und die Umkehrung von Dressur.

Für das Berliner Theater Hebbel am Ufer ist „Scratch Neukölln“ programmatisch: Der Versuch einer Anbindung an die Milieus der Nachbarschaften und die kulturellen Codes der Straßen. Das Ergebnis allerdings sieht etwas zu gewollt aus, nach ethnologischer Exkursion. Das schlägt sich schon in den Kostümen nieder: Die Künstler tragen Tarnfarben, Trainingshosen ebenso wie Ballerina-Röckchen im Camouflage-Design, als gelte es, das wilde Neukölln in einer Art Partisanenkampf zu unterwandern. Das ist zu viel des Mythos von Widerstand und Subkultur, für die der Berliner Bezirk herhalten soll. Die Träume der Kinder dagegen sind viel normaler: Popstar zu werden oder Basketballer, oder einfach, „arbeiten zu dürfen“. So bleibt die Sehnsucht, gerade im Alltäglichen das Ungewöhnliche zu entdecken, für diesmal unbefriedigt.

KATRIN BETTINA MÜLLER

„Scratch Neukölln“, 17.–21. Dezember, 19.30 Uhr, im Hebbel am Ufer, Berlin