Tanz des Lichtes zwischen den Blättern

Wenn eine Schildkröte die Straße überquert: In „Bedrängnis im Mai“ beschwört Nuri Bilge Ceylan die Entdeckung der Langsamkeit und die Gabe des Zuhörens als Kritik an der Moderne. Die Drohung des Verlustes umgibt alle Figuren

Der alte Mann sitzt und lauscht. Auf den Wind, die Blätter, das Gras, das sich vor ihm in Wellen biegt. Auf das leise Knarren des Baumes, an den er sich lehnt. Die Mittagssonne brennt heiß vom Himmel herab, nur unter dem Laub der Bäume ist ein wenig Erholung zu finden. Die Zikaden singen ihr Lied. Irgendwann ist der Mann eingeschlafen. Viel passiert nicht in diesen ersten Bildern von „Bedrängnis im Mai“.

Wenn in Anatolien im Sommer eine Schildkröte die staubige Straße überquert, ist das dem Regisseur Nuri Bilge Ceylan schon eine ganze Szene wert. Leute sitzen herum, am Straßenrand, in Cafés, auf ihren Betten. Manchmal wechseln sie ein paar Worte miteinander. Dennoch wird eine ganze Menge erzählt. Mit zurückgefahrenem Tempo entwickelt der Film eine Sprache der minimalen Geste, in der ein zerbrochenes Ei eine Katastrophe bedeuten kann.

Ein Film aus Ruhe, Licht, Verzögerung. Eine feine Melancholie liegt über allen Bildern, im Sommer ist es bereits Herbst. Der Mai mache ihn depressiv, klagt der Vater Emin (M. Emin Ceylan): Denn in diesem Monat kommen die Beamten des Katasteramts, die das Wäldchen abholzen wollen, das er sein Leben lang mit viel Mühe gepflegt hat. Er will diese Bäume beschützen, Tag und Nacht wälzt er dafür Gesetzestexte, weiß das Recht auf seiner Seite und die Beamten gegen sich. Er wird nicht sterben, bevor er diese Bäume nicht gerettet weiß, sagt er seinem Sohn Muzaffer (Muzaffer Özdemir), der aus der Stadt zurückgekehrt ist, um im Dorf seiner Kindheit einen Film zu drehen.

In langen Einstellungen beschwört die Kamera den Respekt der geduldigen Beobachtung und des Zuhörens. Beides hat Muzaffer verlernt. Er betrachtet Menschen und Dinge nach dem Nutzen für ihn als Filmemacher. Er lobt ein altes Haus, wenn es ein geeigneter Drehort ist. Die Menschen im Dorf sind interessant, wenn sie gute Schauspieler abgeben und für ihn arbeiten, ansonsten wendet Muzaffer sich gelangweilt ab. Für die Sorgen seines Vaters hat er kein Ohr, und kein Auge für die Schönheit der Gegend, in der er aufgewachsen ist und die Regisseur Nuri Bilge Ceylan in geradezu entrückter Schönheit darstellt: der Tanz des Lichtes zwischen den Blättern, das Innehalten wie ein Atemholen in der Begegnung mit der Natur. Die Naturlyrik Ceylans ist Tarkowski minus Mystizismus.

Die Ankunft des Sohnes aus der Stadt wird die Koordinaten dieser Welt langsam verschieben. Muzaffer und sein Assistent sind Fremdkörper hier. Vor einem bellenden Hund flüchten sie sich eilig ins Auto, ein Kind bringen sie sofort zum Weinen. Überall dringen sie ein, ohne sich um die Geschichten der Leute zu kümmern, denen sie mit ihrer Kamera auf den Leib rücken.

Wo sie hinkommen, hinterlassen sie Spuren wie die roten Farbkleckse der Forstbeamten auf den Bäumen: darf abgeholzt werden. Der Cousin von Muzaffer kündigt seine sichere Stelle in der Fabrik für das leere Versprechen eines Jobs in der Filmbranche. Immerhin kostet die Rolle Film, die Muzaffer bedenkenlos verbraucht, mehr, als er in der Fabrik in einem Monat verdienen könnte. Ali, der Neffe, fängt kleine Betrügereien an, weil er sich nichts sehnlicher wünscht als eine moderne Uhr mit eingebauter Musikbegleitung.

Stadt und Land, Moderne und Tradition sind für Ceylan unversöhnliche Gegensätze, und in ihrer Begegnung ist der Verlust der Unschuld nicht wieder gutzumachen. Es mag in dieser Haltung etwas von der Nostalgie des „Früher war alles besser“ liegen. Aber es ist Ceylans Verdienst, diese Widersprüche spürbar zu machen, ohne sie jemals offen gegeneinander auszuspielen. Dieser Verlust umgibt alle Figuren im Film, wie ein sich ankündigender Umschlag des Wetters, wie eine bedrückende Atmosphäre im Mai.

DIETMAR KAMMERER

„Bedrängnis im Mai“, fsk, 20 Uhr