Die Zeit des Aufwachens

Heute vor 40 Jahren begann in Frankfurt am Main der Auschwitz-Prozess. Recht gesprochen wurde über 22 Angeklagte wegen des Massenmordes in Auschwitz. Das Verfahren gilt als Wendepunkt in der bundesdeutschen Geschichte: Die Verbrechen der NS-Zeit ließen sich nicht mehr verdrängen

„Mit dem Prozess ist der Holocaust als ultimatives Grauen ins Bewusstsein der Gesellschaft gedrungen“

VON PHILIPP GESSLER

Ein Grauen in deutschen Gerichtssälen. Ein „Kannibale“, der nichts bereut, ein Satanistenpaar, das mit Freude einen Mann rituell erschlägt, ein Kinderschänderduo, das sich seiner Tat noch rühmt. Ist unsere Gesellschaft vollends verroht? War jemals von ähnliche Brutalitäten vor Richtern in der Bundesrepublik zu hören?

Wer dies verneint, sollte, wenn nicht die Protokolle, so doch in Peter Weiss’ „Ermittlung“ von 1965 nachlesen, was während des Auschwitz-Prozesses festgestellt wurde. Es war ein Jahrhundertverfahren, das heute vor 40 Jahren im „Römer“ in Frankfurt am Main begann – aber heute nur noch den Älteren etwas zu sagen scheint. Worum ging es?

Wer den Auschwitz-Prozess beobachten wollte, musste an einem Weihnachtsmarkt auf der „Guten Stubb“ vorbei, dem Platz vor dem „Römer“, dem Frankfurter Rathaus. In 183 Verhandlungstagen sprach das Gericht bis zum 20. August 1965 erst im geräumten Stadtparlament, dann im Bürgerhaus Gallus Recht über 22 Angeklagte der Mordfabrik Auschwitz. Dort wurden über eine Million Menschen umgebracht.

Doch diese Zahl ist so abstrakt, dass sie den Horror verdeckt. Es ging vor dem Schwurgericht in der „Strafsache gegen Mulka u. a.“ um den Mord an hunderten von Menschen. Die Morde mussten den Angeklagten individuell nachgewiesen werden. Es waren Taten, die während des Verfahrens vor dem Landgericht in allen grausigen Details öffentlich gemacht wurden – und die aufzuschreiben kaum erträglich ist. So wurde etwa der Mord an 119 Jungen im Alter von 13 bis 17 Jahren verhandelt. Die Jugendlichen aus dem Gebiet von Zamość in Polen wurden am Nachmittag des 23. Februar 1943 mit Phenolinjektionen ins Herz getötet, nachdem sie am Vormittag noch auf dem Hof des Krankenhauses von Auschwitz Ball spielen durften. Einer der Täter war Emil Hantl, SS-Unterscharführer – ein Sanitätsdienstgrad –, geboren 1902.

Der Häftling Kurt Pachala verdurstete in einer „Stehzelle“, 90 Zentimeter im Quadrat breit, 2 Meter hoch. Er starb am 14. Januar 1943, nach über zwei Wochen. Am Ende hatte er seine Schuhe gegessen, seinen Urin getrunken, die Wände der Zelle abgeleckt. Aus solchen Zellen mussten Leichen mit Stangen herausgebrochen und -gekratzt werden.

Die lebenslustige und hübsche Inhaftierte Lili Tofler wurde erschossen, weil sie einem Mithäftling einen Brief zuschmuggeln wollte. Der SS-Oberscharführer Wilhelm Boger, Jahrgang 1906, hatte sie zuvor vier Tage lang jeden Morgen und Nachmittag eine Stunde lang in den Waschraum gestellt und ihr seine Pistole an die Schläfe gedrückt. Am Ende flehte sie auf Knien, man möge sie erschießen. In dem Prozess wurde die Geschichte eines Häftlings behandelt, der mit 38 anderen in eine „Hungerzelle“ gesperrt wurde, die drei mal zweieinhalb Meter maß. Luft kam nur durch ein handtellergroßes Loch in der Decke. Innerhalb einer Nacht waren über 20 der Inhaftierten erstickt oder von den anderen im Todeskampf totgetreten worden.

Das Schwurgericht hörte sich auch die Details des Geschehens in Gaskammern an: Wenn man die Türen 20 Minuten nach dem Einfüllen von Zyklon B öffnete, fand man bis zu 2.000 ineinander verkeilte nackte Leichen. Säuglinge, Kinder und Kranke, totgetreten auf dem Boden; dort breitet sich das Gas zuerst aus. Darüber die Frauen, ganz oben die kräftigsten Männer. Um Geld zu sparen, wurde meist nicht genug Zyklon B eingeworfen, sodass die Tötung bis zu fünf Minuten dauern konnte. Für 2.000 Menschen pro Kammer wurden 16 Büchsen à 500 Gramm benutzt, Preis je Büchse: 5 Reichsmark. Etwa 865.000 Juden wurden in den Gaskammern von Auschwitz ermordet.

356 Zeugen wurden während des Prozesses gehört, davon 220 Überlebende von Auschwitz. Nur so waren die meisten Taten überhaupt nachweisbar. Von den Angeklagten hielt kaum jemand seine Taten für strafwürdig. Ein schlechtes Gewissen schien keinen zu plagen. Es wird zumindest in den Gerichtsprotokollen nicht sichtbar. Dem SS-Sturmbannführer Victor Capesius, ein 1907 geborener Apotheker, wurde sein Dienst an der Rampe bei „Selektionen“ vorgeworfen. Das Gericht wies ihm „gemeinschaftliche Beihilfe zum gemeinschaftlichen Mord in mindestens vier Fällen an mindestens je 2.000 Menschen“ nach. Er bestritt, jemals Dienst an der Rampe am Endpunkt der Gleise nach Auschwitz gehabt und Menschen in den Tod geschickt zu haben. Stattdessen betonte er, „zu allen höflich, freundlich und hilfsbereit“ gewesen zu sein. Er habe keinem Menschen „etwas zuleide getan“. Immer wieder lachten die Angeklagten während des Prozesses.

Von den 22 Angeklagten wurden 6 zu lebenslanger Haft verurteilt, 11 erhielten Freiheitsstrafen zwischen dreieinhalb und vierzehn Jahren. Drei wurden freigesprochen. Ein Angeklagter verstarb während des Verfahrens, ein anderer schied wegen Krankheit aus. Die Strafen fielen relativ milde aus, da das Gericht versuchen musste, die individuelle Schuld jedes Einzelnen nachzuweisen. Dem Versuch der Staatsanwaltschaft, den Massenmord juristisch als eine einzige Tat zu betrachten und zu ahnden, folgte weder das Gericht noch der Bundesgerichtshof in einem Revisionsverfahren 1969.

Obwohl in den großen Zeitungen ausführlich über den Prozess berichtet wurde, ist umstritten, ob sie tief in die Öffentlichkeit wirkten. Der Frankfurter Generalstaatsanwalt Fritz Bauer, der den Prozess vor allem aus pädagogischen Gründen angestrengt hatte, erhoffte sich von dem Verfahren eine „Umwertung der Werte“, ein Aufwachen aus dem Verdrängen und Verschweigen der zu Ende gehenden Adenauer-Ära. Das Resultat des Prozesses nannte er „mehr als negativ“.

Heute gilt das Verfahren dennoch als Wendepunkt in der Geschichte der Bundesrepublik. Micha Brumlik, Leiter des Frankfurter Fritz-Bauer-Instituts, bewertet es als den Beginn eines Verarbeitungsprozesses. „Plötzlich bekam das Böse Namen und Gesicht, Alter und Adresse.“ Was Gesellschaft, Politik und Geschichtswissenschaft nicht konnten oder wollten, übernahm die Justiz: „den von Deutschen begangenen industriellen Massenmord konkret aufzuklären“. Das Verfahren habe sogar eventuell für das Völkerrechtsstrafrecht, etwa in einem künftigen Prozess gegen Saddam Hussein oder für das Kriegsverbrechertribunal in Den Haag, einen „gewissen Vorbildcharakter“.

Der Sozialhistoriker Hans-Ulrich Wehler meint, mit dem Prozess habe die Auseinandersetzung mit dem Holocaust in der deutschen Öffentlichkeit erst wirklich begonnen, gerade Jüngeren wurde damals erst klar, was Auschwitz überhaupt war. Mit Hilfe des Prozesses wurde nach Ansicht von Werner Bergmann vom Zentrum für Antisemitismus-Forschung in Berlin auch verhindert, dass sich die seit 1949 in der breiten Öffentlichkeit vorhandene Tendenz durchsetzte, einen „Schlussstrich“ ziehen zu wollen unter die Beschäftigung mit der Vergangenheit. Dass die Holocaust-Morde auch nach 20 Jahren nicht verjährten, sei eine Wirkung des Verfahrens in Frankfurt gewesen, so der Soziologe.

Der Münchener Zeitgeschichtler Michael Wolffsohn betont, dass mit dem Auschwitz-Prozess die mehr oder minder freiwillige Beschäftigung der bundesdeutschen Gesellschaft mit dem Massenmord begann. Insofern sei dies ein „wichtiger Einschnitt“. Auch der Potsdamer Historiker Julius Schoeps erkennt den Prozess als „Zäsur“ in der Auseinandersetzung mit dem Holocaust. Im Nachhinein. Damals dagegen habe der Prozess seiner Erinnerung nach „kaum Wirkung gezeitigt“: Vielleicht, meint er, „war die Zeit noch nicht reif“. Unzweifelhaft aber ist es seitdem nicht mehr möglich, Auschwitz zu leugnen. Eigentlich. Spätestens mit dem Frankfurter Prozess ist der Holocaust als das ultimative Grauen langsam ins Bewusstsein der Gesellschaft gedrungen, als deutsche Ursünde schlechthin.

Vom Mai 1940 bis Januar 1945 taten 8.000 SS-Angehörige Dienst in Auschwitz, darunter 200 Frauen. Nur etwa ein Zehntel der Auschwitz-Täter wurde abgeurteilt, davon fast 750 von polnischen Gerichten. Nur 45 Angeklagte standen vor deutschen Gerichten, 22 von ihnen in Frankfurt. Capesius, der selektiert hatte, war nur drei Jahre in Haft, er starb 1985. Hantl, der mit Phenol getötet hatte, erhielt dreieinhalb Jahre und wurde nach dem Urteil auf freien Fuß gesetzt. Er wurde 82 Jahre alt. Boger, der Mörder Lili Toflers und vieler anderer, starb 1977 im Gefängnis. Bis zu seiner Verhaftung hatte er als unbescholtener Bürger in Stuttgart gelebt. Unter seinem richtigen Namen.