Regieren qua Ernstfall

Kritik an den USA war in diesem Jahr allgegenwärtig – von Kritik an Russland ließ man dagegen lieber die Finger. Dabei sind Moskaus „Anti-Terror-Operationen“ in Tschetschenien strukturell mit dem amerikanischen War on Terror im Irak vergleichbar

Zum Beweis der eigenen Souveränität brauchen Russland und die USA Bedrohungen

von MARK TERKESSIDIS

Wenn es nach Philosophen wie Jürgen Habermas oder Jacques Derrida geht, dann war 2003 das Jahr, in dem ein neues Europa das Licht der Welt erblickte. Seine Geburtsstunde waren die Proteste gegen den Krieg der USA im Irak. In den Demonstrationen, die bis hinüber nach Moskau reichten, schien sich eine neue kontinentale Zivilgesellschaft zu verkörpern. Mittlerweile ist die Kritik an den USA allgegenwärtig. In den Buchhandlungen stapelt sich die Literatur über die Arroganz des Imperiums. Missbilligend blicken viele auch nach Israel – das Land erscheint als Vorposten des neuen Roms und ebenso wie der große Bruder als „Besatzungsmacht“ auf arabischer Scholle.

Nun kann man die US-amerikanische Antiterrorkampagne und die israelische Besatzungspolitik mit gutem Recht kritisieren. Seltsam dabei ist nur, dass weder das militärische Engagement der Bundesrepublik noch die Politik Russlands in Tschetschenien mit der gleichen Verve verurteilt werden. In der „Koalition der Unwilligen“ schont man sich indessen gegenseitig. Selbst im Kulturbereich lässt man lieber die Finger von den sensiblen Themen – wenn die russische Botschaft interveniert, wie jüngst im Fall der Ausstellung „Berlin–Moskau“, dann wird das Thema Tschetschenien flugs an einen anderen Ort ausgelagert.

Tatsächlich sind die Regierungen in Berlin und in Moskau ja keineswegs Musterschüler in Sachen Friedenswillen und Rechtsstaatlichkeit. Bereits im März 2003 kündigte Verteidigungsminister Struck an, dass die Umstrukturierung der Bundeswehr im Hinblick auf weltweite Auslandseinsätze nun forciert würde – eine Maßnahme, die mit dem Verfassungsauftrag der Landesverteidigung nur schwer in Einklang zu bringen ist. Wenig später betonte Kanzler Schröder in einem Zeit-Interview mit dem bezeichnenden Titel „Die Krise, die Europa eint“, dass Deutschland, wenn es sich vorbehalte, „im Ernstfall auch zu differenzieren oder Nein zu sagen“, in Bezug auf die eigenen militärischen Kapazitäten „handlungsfähiger werden“ müsse. „Insofern stimmt“, sagte Schröder, „dass wir uns über die Ausrüstung der Bundeswehr und über ihre Finanzierung unterhalten müssen.“

Im gleichen Monat verlieh der russische Präsident Putin den Ehrentitel „Held des Vaterlandes“ unter anderem an Wladimir Pronitschew. Das war seltsam, denn der hatte 2002 während der Geiselnahme von 700 Personen durch tschetschenische Terroristen im Moskauer Theater an der Dubrowka eher traurige Berühmtheit erlangt: Ihm, damals stellvertretender Vorsitzender des Inlandsgeheimdienstes FSB, war das Terrorkommando in der Stärke von etwa 50 Personen nicht weiter aufgefallen.

Geehrt wurde zudem der Chemiker, der die Gasattacke zur „Befreiung“ der Geiseln mit einem Gemisch auf der Basis des Opiumderivats Phentanyl geleitet hatte: 122 der Gekidnappten mussten deswegen ihr Leben lassen. Während Putin diese veritablen Helden dekorierte, fand in Tschetschenien ein Referendum statt, in dem 96 Prozent der Wähler für einen „Friedensplan“ stimmten, der auch eine Verfassung beinhaltete – ein Votum wie in besten Sowjetzeiten. Offenbar kommt in der Russischen Föderation die Verfassung aus den Gewehrläufen.

Auf den Straßen von Berlin und Moskau jedoch protestierten Tausende und Abertausende gegen den US-Krieg im Irak. Gleich bei Kriegsbeginn hatte der Musiksender Viva sein Logo durch ein Friedenszeichen ersetzt und die „Russenlesben“ (Bild) von T.A.T.U. traten im US-Fernsehen frech mit russisch beschrifteten Antikriegsshirts auf. Gleichzeitig schwiegen die jeweiligen Zivil- und Spaßgesellschaften beredt über die zunehmende Militarisierung der eigenen Außen- und Innenpolitik. Schröder und Putin konnten im Windschatten der moralischen Empörung die eigenen militärischen Interventionen legitimieren und die eigenen Rechtsbrüche vergessen machen. 1999 hatte die Bundesregierung nachdrücklich den Angriff der Nato auf die Bundesrepublik Jugoslawien unterstützt, obwohl der Weltsicherheitsrat – nicht zuletzt wegen Russland – keinerlei Mandat für diesen Krieg erteilte. Als Begründung für das militärische Eingreifen genügte der Rekurs auf einen „Ernstfall“ – den angeblichen Völkermord im Kosovo. Der Krieg brachte einem Kabinett, dem zuvor von der Boulevardpresse vorgeworfen wurde, es sei zu dumm zum Regieren, erstmals außenpolitisches Renommee. Seitdem wurde unter dem Kommando von Rot-Grün mehr deutsches Militär über den Globus verteilt als in den 50 Jahren zuvor.

Die außenpolitische Schlappe Russlands in der Kosovokrise kompensierte der Kreml durch schnelles Lernen. Wenig später hatte Moskau seinen eigenen „Ernstfall“ kreiert und bombardierte nun seinerseits – freilich weniger smart – die tschetschenische Hauptstadt Grosny. Von heute aus wirkt der Ablauf der Ereignisse, die zur „Antiterroroperation“ in Tschetschenien führten, wie ein Skript für die Geschehnisse nach dem 11. September. Als Auslöser dienten die Terroranschläge auf Wohnhäuser unter anderem in Moskau. Als Täter wurden schnell Islamisten identifiziert, wobei sich hartnäckig Vermutungen halten, dass die Regierung und der Geheimdienst die Anschläge geduldet oder gar inszeniert haben. Durch diesen „Ernstfall“ konnte ein Präsident, der zunächst nicht gewählt wurde, in der Bevölkerung seine Regierung legitimieren – bekanntlich hatte es eine vorzeitige Amtsübergabe an Putin gegeben. Auch Bush wurde ja nicht gewählt, sondern ein Gericht in Florida entschied über seinen Wahlsieg. Für ihn wie für Putin zuvor stellte der Krieg einen blutigen Anlass dar, um zu beweisen, dass der Staat „handlungsfähig“ war.

Was in dieser erstaunlichen Kette von Ereignissen zum Ausdruck kommt, ist ein Zirkulieren des Ernstfalls zwischen den Staaten, wobei sich die jeweiligen Akteure in einer fortgesetzten Mimikry an vorangegangene Konstruktionen des Ausnahmezustandes schmiegen. Dabei sind die Abstufungen im Handeln zwischen den jeweiligen Staaten letztlich nur noch graduell. Der Raum der Politik zieht sich zusammen auf die Koordinaten Ernstfall und Intervention.

Diese Schrumpfung des Politischen hängt mit einer äußerst paradoxen Handlungslogik der staatlichen Akteure in den letzten drei Jahrzehnten zusammen. Denn zum einen arbeitet jener „sterbliche Gott“, von dem Thomas Hobbes in seinem Buch „Leviathan“ sprach, derzeit permanent an seiner eigenen Entmachtung. Schließlich waren es die Staaten selbst, die sich bereits ab Mitte der Siebzigerjahre mehr und mehr der Doktrin des Neoliberalismus und der Praxis der Globalisierung verschrieben und damit die eigenen Handlungsspielräume radikal verengten. Anstatt für Ausgleich und soziale Sicherheit zu sorgen, soll der Staat indessen bloß noch autokratisch die Freiheit der „offenen Gesellschaft“ garantieren.

Zum anderen freilich erheben die Staaten weiterhin Anspruch darauf, die allmächtige Verkörperung des Volkes zu sein. Die Souveränität befindet sich jedoch durch die eigenen Maßnahmen in Auflösung, und zwar im doppelten Sinne – im Sinne der staatlichen Souveränität sowie im Sinne der Souveränität des Volkes. Zum Beweis und zur Sichtbarmachung der eigenen Souveränität brauchen die Staaten daher den „Ernstfall“ – die Anrufung einer Krise oder einer Bedrohung. Der Ernstfall erlaubt etwa die Entfesselung der staatlichen Gewalt im Krieg. Gleichzeitig kann der Staat ein Band um das Volk schlingen: Die Regierung kann sich als Verkörperung der Volonté Géneral darstellen, weil die ohnmächtigen Bürger sich aus lauter Angst vor den jeweils beschworenen Bedrohungen um das Militär scharen. So ist die Angst der Bevölkerung auch ein Mittel, um sozial auseinander fallende Gesellschaften zumindest für eine gewisse Periode wieder zusammenzuschweißen.

Im Gegensatz zur Zeit des Kalten Krieges wirken die Staaten heute nicht mehr als autoritäre Garanten der Stabilität, sondern als Agenten einer paradoxen Destabilisierung: Sie entwerten fortgesetzt die Souveränität, um sie gleichzeitig zu simulieren. Dabei steht diese Simulation unter Wiederholungszwang, denn sie braucht stets aufs Neue die Inszenierung einer Bedrohung, um sich der eigenen Handlungsfähigkeit qua Intervention zu versichern.

Freilich hat sich gezeigt, dass diese Interventionen keineswegs zu mehr Sicherheit führen: Der Kosovo und noch weit mehr Tschetschenien befinden sich in einem Zustand, den man mit den Worten von Anna Politikowskaja als „weder Krieg noch Frieden“ oder als „kontrolliert schwelenden Konflikt“ bezeichnen könnte. Heute ist der Kosovo ein Raum, der von ungelösten Problemen geradezu strukturiert wird – das Schicksal der 250.000 vertriebenen kosovarischen Serben und Roma etwa, der ungeklärte völkerrechtliche Status, die endemische Kriminalität. Und während Putin von der „Diktatur des Gesetzes“ spricht, herrscht in den zerstörten Straßen von Tschetschenien die Diktatur der verschiedensten Art von Banditen: russische Geschäftemacher, korrupte Exnomenklatura, marodierende Truppen und lokale Kriminelle.

Die Profiteure des latenten Kriegszustandes sitzen also nicht nur in Washington und Jerusalem, sondern auch in Berlin und Moskau. Und wer die einen kritisiert und die anderen schont, der beteiligt sich am Geschäft des Krieges.