Film verleiht Flügel

Boten und Beschützer, Gefallene und Gefährten: Die Ausstellung „Flügelschlag. Engel im Film“ beschäftigt sich fernab von weihnachtlichem Kitsch mit Engeln aus 80 Jahren Filmgeschichte – von Chaplins „The Kid“ bis zur „Entdeckung des Himmels“

Für manchen Film-Engel bedeutet Glück frisch gekochten Kaffee

von SANDRA LÖHR

Ein großer goldener Stern hängt an der Decke, vom riesigen Weihnachtsbaum plärrt es vorweihnachtliche Ohrwürmer herab und auf der künstlichen Eisbahn kann man Indoor-Schlittschuh fahren. Das Sony Center am Potsdamer Platz bietet die passende Kulisse für diese Tage, in denen brave Konsumenten zum Endspurt des alljährlichen Geschenkewahnsinns ansetzen. Wer fliehen will, ist im ersten Stock des Sony Centers richtig. Dort findet man in den Räumen des Filmmuseums eine in blaues Licht und sphärische Klänge getauchte Ausstellung, bei der es zwar um Engel geht, aber dies ganz ohne vorweihnachtlichen Kitsch. „Flügelschlag – Engel im Film“ kreist um das Thema der vom Himmel gefallenen gefiederten Wesen und besteht vor allem aus einigen gut ausgesuchten Filmausschnitten, die einen Querschnitt von Filmen wie Charlie Chaplins „The Kid“ von 1921 bis hin zu Jeroen Krabbés „Die Entdeckung des Himmels“ von 2001 liefern. Daneben gibt es großformatige Fotos und einige wenige Exponate wie verschiedene Engelskostüme zu sehen.

Das Wort Engel, das vom griechischen angelos stammt, heißt eigentlich nur so viel wie Bote oder Botschafter und sorgt seit Urzeiten dafür, dass der Nachrichtenverkehr zwischen Göttern und Menschen, oben und unten, Himmel und Erde oder, um es gleich filmgerecht zu deuten, zwischen Verstand und Gefühl klappt. Aber Engel ist nicht gleich Engel. Im ersten Raum der Ausstellung findet deswegen zunächst eine Art Engelskunde statt. Zur Klanginstallation von Frieder Butzmann, bei der von Zeit zu Zeit ein Geräusch ertönt, das sich wie ein unheimliches Scharren eines Riesenvogels aus einem Science-Fiction-Film anhört und einen von Zeit zu Zeit zusammenzucken lässt, werden auf großen Stoffbahnen die verschiedenen Engelgruppen der antiken und jüdisch-christlichen Mythologie erklärt und dargestellt.

Da gibt es neben dem klassischen Boten den Beschützer, den Krieger, den Gefallenen (dessen prominentestes Beispiel Luzifer ist), den Gefährten als Begleiter ins Jenseits und den Liebenden. Im zweiten Raum wird diese Unterteilung dann weitergeführt. Dort stehen neben einer großen Leinwand, die alle Filmausschnitte hintereinander zeigt, sechs verschiedene Monitore mit Kopfhörern bereit, die die thematische Bündelung wiederholen. Klassisches Beispiel für die Liebenden ist etwa „Der Himmel über Berlin“ von Wim Wenders, der sich auch als Schirmherr der Ausstellung nützlich macht. Bei ihm schlagen sich die Engel bekanntlich mit einer Art Identitätskrise herum. Bruno Ganz als Engel Damiel verfällt einer Trapezkünstlerin und gibt das himmlische Dasein auf, um sich künftig dem irdischen Glück von Liebe und frisch gekochtem Kaffee hinzugeben.

Doch das ist eher die Ausnahme; ansonsten verkörpern die Film-Engel oft höhere, geistige oder spirituelle Eigenschaften, die den Erdbewohnern abhanden gekommen sind. Der Engel als besserer Mensch. Da wundert es nicht, wenn man liest, dass diese vermehrt in Filmen der Vierziger- und Neunzigerjahre auftraten. Offenbar gibt es in Krisenzeiten wie Weltkrieg und Jahrtausendwende eine erhöhte Sehnsucht nach dem Trost des Übersinnlichen.

Aber im Grunde genommen bedeutet die Existenz von Engeln im Filmen vor allem eins: die Sprengung von den Fesseln der Realität. Anders als in Science-Fiction- oder in Märchenfilmen wie „Der Herr der Ringe“, wo der Zuschauer in eine Art Zauberreich mit eigenen Gesetzen und Regeln eintaucht, geht es bei den meisten Filmen, in denen Engel auf der Erde landen, ums genaue Gegenteil: um die Integration von Fantastischen in eine säkularisierte Welt, in der es keine Wunder mehr gibt.

Wahrscheinlich haben Engel und das Medium Film deswegen auch mehr miteinander zu tun, als es der erste Blick vermuten lässt. Beide können die Menschen aus der physischen und psychischen Vogelperspektive betrachten und die Regeln des Hier und Heute aushebeln. Beide sind somit ein Garant für die menschliche Fantasie und Sehnsucht nach dem Übersinnlichen und Unerklärlichen. Die Zeiten allerdings, wo diese Verkörperungen des Übersinnlichen noch als grenzdebile, harfenspielende und in weiße Nachthemden gehüllte Gestalten auf Wattewölkchen wohnen durften, sind längst vorbei: Auffällig oft versehen Film-Engel ihren Dienst inzwischen in einer büroähnlichen Himmelszentrale oder in einer Art Flughafengebäude.

Wer von den sphärischen Lichtgestalten genug hat, kann seinen Kopf als Ausgleich in die Höllen-Stele hineinstecken, die in der Mitte des zweiten Raumes steht. Die Augen sehen das eigene Spiegelbild, getaucht in rotes, dämonisches Licht. Darunter befindet sich ein Monitor, auf dem ein ekstatisch schreiender Mensch in einer Art Endlosschleife durch die Hölle stürzt. Ein schauriges Kontrastprogramm und doch allemal näher am real existierenden Vorweihnachtswahnsinn als die Engelscharen ringsum.

Filmmuseum Berlin im Filmhaus am Potsdamer Platz (Sony Center). Noch bis zum 12. April 2004. Di.–So. 10–18 Uhr, Do. 10–20 Uhr