Abschiebung erst im Bus zum Flugzeug gestoppt

Nach acht Jahren in Deutschland sollte eine Familie von Bürgerkriegsflüchtlingen aus Bosnien nach Sarajevo abgeschoben werden. Erst auf dem Rollfeld wurde die Abschiebung gestoppt. Seitdem leidet die Mutter Amina S. unter einer Retraumatisierung. Das Leiden im Bürgerkrieg ist wieder präsent
von HEIKE KLEFFNER

Wo ihr hastig gepacktes Handgepäck ist, weiß Amina S. (Name geändert) nicht: “Irgendwo in Sarajevo.“ Die Hände zittern, als die 50-jährige Bosnierin nach dem Wasserglas greift. Ginge es nach der Ausländerbehörde, wären Amina S., ihr Mann Moussa und ihre Söhne (21 und 24 Jahre alt) seit Montag auch in Sarajevo.

Um 5.45 Uhr standen vier Polizeibeamte in Pankow vor der Wohnung der Bürgerkriegsflüchtlinge, die 1995 nach Deutschland flohen. Moussa S. war gerade beim Morgengebet, Frau und Söhne schliefen noch, als die Beamten Einlass begehrten. „Plötzlich war ich wieder im Krieg“, sagt Amina S. Es gibt ein Wort für die Symptome wie Atemnot, rotfleckigen Hautausschlag und Weinkrämpfe, die ihr geradezu ins Gesicht geschrieben sind: „Retraumatisierung“.

“Sachen packen“, hatten die Polizisten befohlen und jegliche Bitten, telefonieren zu dürfen, ebenso ignoriert wie die Schriftsätze, dass die Aufenthaltsfrage der Familie noch beim Oberverwaltungsgericht anhängig ist. Dem ältesten Sohn gelang es dennoch, einen Freund anzurufen. Der wiederum hatte Glück bei der frühmorgendlichen Suche nach einem Rechtsanwalt. „Die Polizisten hatten uns schon in Tegel in den Bus zum Flugzeug nach Sarajevo gesetzt, als der Anwalt uns erreichte“, sagt Amina S. Die Beamten brachten sie ins Flughafengebäude zurück, und das Flugzeug nahm ihr Gepäck mit nach Sarajevo.

“Sachen packen“, wiederholt Amina S. leise. Damit verbindet sie Erinnerungen aus dem Sommer des Jahres 1992, als ihr Haus in dem kleinen Dorf bei Srebrenica abgebrannt wurde und sie mit vier Kindern aus Furcht vor den ethnischen Säuberungen durch serbische Milizen in den Wald flüchtete. Amina S. sagt, bei dem Versuch, die letzten Habseligkeiten aus dem Haus zu retten, wurde sie von bewaffneten Milizen überrascht.

Einer der Männer hielt ihr einen Gewehrlauf in den Mund, um den Aufenthaltsort ihres Mannes aus ihr herauszupressen. Der lebte da schon gemeinsam mit dem ältesten Sohn versteckt bei einem serbischen Arbeitskollegen, bis er weiterfliehen musste. In Belgrad wurde er bei einer Polizeikontrolle festgenommen und drei Tage gefoltert. Amina S. und die drei jüngeren Kinder überlebten die Belagerung von Srebrenica.

1995 floh die Familie S. getrennt voneinander nach Berlin. Moussa S. befindet sich aufgrund der Folterfolgen seit 1996 in therapeutischer Behandlung, Amina S. wartet seit vier Jahren auf einen Therapieplatz. Die beiden jüngsten Söhne haben ihren Realschulabschluss in Berlin gemacht. Eine Ausbildung dürfen sie als „geduldete“ Flüchtlinge nicht beginnen.

Fachärztliche Atteste bescheinigen beiden Eltern posttraumatische Belastungsstörungen. Doch weil die Atteste unterschiedlicher Ärzte sich in Details über die Fluchtstationen unterscheiden, lehnte das Verwaltungsgericht im November einen Antrag der Familie auf eine Duldung entsprechend der Weisung für traumatisierte Bürgerkriegsflüchtlinge endgültig ab.

Amina und Moussa S. hätten gelogen, so das Gericht. Es sei „mit Blick auf erhebliche Widersprüche im Antragsvorbringen und den eingereichten Attesten von einer schwerwiegenden Täuschung auszugehen“, entschied die 10. Kammer des Verwaltungsgerichts am 9. Dezember. Das hatte bislang nicht einmal die Ausländerbehörde behauptet. Das Gericht habe „alle Fakten zu Ungunsten der Familie ausgelegt“, sagt Anwalt Ronald Reimann, der die Familie S. vertritt.

Nachdem dem Rechtsanwalt die Entscheidung am 12. Dezember zugestellt wurde, legte er beim Oberverwaltungsgericht Beschwerde ein und stellte einen Eilantrag, die Familie bis zur Entscheidung nicht abzuschieben. Doch die Ausländerbehörde wollte diese Entscheidung offenbar nicht abwarten. „Das ist ein klarer Rechtsbruch“, kritisiert Rechtsanwalt Reimann.

Wenn Amina S. versucht, über ein Leben in Bosnien zu sprechen, kann sie die Tränen nicht zurückhalten. „Wo sollen wir denn dort leben?“, fragt sie. Um die Abschiebung zu verhindern, hatte die Familie auf dem Flughafen Tegel Asylanträge gestellt.

Vor einigen Tagen hat Amina S. einen Brief vom Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge erhalten. Sie solle sich mit ihrer Familie am 21. Dezember in Chemnitz im Zentralen Aufnahmelager einfinden. „Die lebensnotwendige Versorgung durch Therapeuten und Ärzte ist nicht gewährleistet“, kritisiert Bosiljka Schedlich vom SüdOst-Zentrum. Amina S. hofft noch immer, dass die Familie in Berlin bleiben kann. Zumindest zu Weihnachten.