Präsident Aristide lehnt Rücktritt ab

Studentenproteste, Gewalt und Rücktritte – Haiti, das Armenhaus Lateinamerikas, gleicht einem Pulverfass

SANTO DOMINGO taz ■ Wer Staatspräsident Jean-Bertrand Aristide kritisiert oder gegen seine Regierung protestiert, bekommt die militante Wut seiner Anhänger zu spüren. Kaum, dass der populäre Leadsänger der Gruppe „Boukman Eksperyans“, Thédore Beaudrun Jr., die gewaltsame Unterdrückung der Studentenproteste der letzten Wochen verurteilt hatte, drangen bewaffnete Mitglieder so genannter Volksorganisationen am Donnerstagabend in das Haus des „Lolo“ genannten Musikers ein. Der international bekannte Musiker der Rara-Rock-Gruppe hatte noch Glück im Unglück. Beaudrun und seine Frau Mimose konnten durch die Hintertür vor den rabiaten Schimären genannten Anhängern von „Titid“, des kleinen Aristide, fliehen.

Die protestierenden Studenten dagegen trifft täglich die geballte Gewalt. Sie fordern eine Reform der Universitätsausbildung, eine Demokratisierung des Landes und ein Ende der Verfolgung von Regierungsgegnern. Kaum dass sie sich auf oder vor dem Universitätsgelände versammeln, werden sie von den Schimären angegriffen. Mit Knüppeln und Steinen, manchmal mit Schusswaffen, versuchen diese, die Oppositionellen auseinander zu treiben. Dutzende sind bisher bei den Angriffen zum Teil schwer verletzt worden.

Neben den Gewalttätigkeiten von Mitgliedern der Regierungspartei „Fanmi Lavalas“, der Lavalas-Familie, sind die Protestierer auch den Angriffen von Spezialeinheiten der Polizei ausgesetzt. Trotzdem verstummt der Ruf der Studenten, „Aristide muss weg“, nicht.

Seit der brutalen Unterdrückung der Studentenproteste verliert Staatspräsident Jean-Bertrand Aristide beinahe täglich enge Mitarbeiter. Zuerst reichte Erziehungsministerin Marie Carmel Paul-Austin, aus Protest dagegen ihren Rücktritt ein. Gesundheitsminister Pierre Emile Charles demissionierte wegen der „barbarischen Akte, gegen die Universitätsgemeinschaft“. Der haitianische Diplomat in der Dominikanischen Republik, Guy Alexandre, legte sein Amt als Botschafter nieder. Das Verhalten der Regierung sei mit seinen ethischen Prinzipien nicht mehr vereinbar, betonte der ehemalige Weggefährte Aristides in seinem Rücktrittsschreiben. Und am Freitag legte der Umweltminister Haitis, Webster Pierre, ebenfalls sein Amt nieder.

In diese Schar hat sich auch der ehemalige Polizeichef und einstige starke Mann der Regierungspartei Fanmi Lavalas, Dany Toussaint, eingereiht. Die Regierung von Aristide bezeichnete er als ein „kreolisch faschistisches“ Regime. Dabei steht der frühere Polizeikommissar und derzeitige einflussreiche Senator selbst in der Kritik. Oppositionsgruppen und Menschenrechtsorganisationen werfen ihm vor, für Mordanschläge gegen Aristide-Gegner, darunter auch Journalisten, verantwortlich zu sein.

Das eher linke Oppositionsbündnis Convergence Democratique und die „Gruppe der 184“, ein Zusammenschluss von Nichtregierungsorganisationen, reagierte auf die Ausschreitungen gegen die Studentendemonstranten mit einem eintägigen Generalstreik, der die Hauptstadt am Dienstag der vergangenen Woche fast vollständig paralysierte. Es sei die „letzte Chance“ für Aristide, einen demokratischen Weg einzuschlagen, sagte der Koordinator der Gruppe, der Unternehmer André Apaid Junior. Aus allen größeren Städten des Landes werden täglich Demonstrationen gemeldet, die den Rücktritt des Staatspräsidenten fordern. Seit der frühere Salesianerpriester vor drei Jahren zum zweiten Mal sein Amt antrat, findet er sich im Kreuzfeuer der Kritik. Wegen gewaltsamer Ausschreitungen gegen Aristide-Kritiker verzichtete die Opposition damals auf einen Gegenkandidaten bei den Präsidentschaftswahlen, die von schweren Betrugsvorwürfen überschattet war. Kritische Journalisten wurden ermordet, Gegner der Regierungspartei mussten aufgrund von Drohungen ins Ausland flüchten. Hilfsgelder in Höhe von rund einer halben Milliarde Dollar wurden daraufhin eingefroren.

Aristide gibt sich von den Protesten und Rücktrittsforderungen unbeeindruckt. Er werde seine Amtszeit verfassungsgemäß am 7. Februar 2006 beenden, sagte er auf einer Pressekonferenz in der haitianischen Hauptstadt Port-au-Prince. Kaum 14 Tage bevor Haiti seinen 200. Unabhängigkeitstag feiern will, steht das Armenhaus Lateinamerikas am Rande eines Bürgerkriegs. Gonaïves, die Hafenstadt, in der am 1. Januar 1804 die erste freie Republik ausgerufen wurde, nachdem die schwarze Bevölkerungsmehrheit aus ehemaligen Sklaven die französischen Kolonialherren erfolgreich in die Flucht geschlagen hatte, gleicht einem Pulverfass. In der Provinzhauptstadt dominiert inzwischen eine bewaffnete „Widerstandsfront Anti-Aristide“. Sie werde mit Waffengewalt verhindern, dass der Staatspräsident zur offiziellen Unabhängigkeitsfeier Gonaïves betreten werde, drohte ein Sprecher.

HANS-ULRICH DILLMANN