Suche nach dem eigenen Standort

Neue Ausstellungen und ein Kongress in Berlin zeigen: Die Kartografie zählt derzeit zu den einflussreichsten Verfahrenin der zeitgenössischen Kunst. Die Frage nach den Repräsentationsformen von Gesellschaft und Raum hat Konjunktur

Das zeigt nicht zuletzt der Erfolg des „Atlas der Globalisierung“ von Le Monde diplomatique

VON AXEL JOHN WIEDER

Die kulturelle Vogelperspektive könnte paradigmatisch werden, wenn man der von vielen KünstlerInnen geäußerten Annahme folgt, Kritik und Handlungsfähigkeit würden eine kartografische Übersicht benötigen. Die französische Gruppierung „Bureau d’Etudes“, die Mitte 2002 in den Berliner Kunst-Werken ausstellte, beschreibt ihr Projekt folgendermaßen: „Die bildhafte Darstellung aller sozialen Beziehungen auf der Welt, wie sie durch die Informationen, die sie dokumentieren, aufgezeichnet sind, würde im Idealfall eine Karte des globalen sozialen Raums herstellen. So eine Karte, nach den Beziehungen gezeichnet, die den sozialen Raum gestalten, kann uns helfen, unseren Standort festzustellen, zu erkennen, was gerade passiert und – tatsächlich – zu entscheiden, was wir tun können.“

Die gerade eröffnete Austellung „Die Sehnsucht des Kartografen“ im Kunstverein Hannover suggeriert nun tatsächlich, der Einsatz von Kartografie in künstlerischen Arbeiten diene vor allem dazu, sich eines eigenen Standortes zu versichern. Die Gruppenausstellung sortiert um das Thema der Kartografie Arbeiten von über zwanzig KünstlerInnen in ein Spannungsfeld zwischen der Suche nach grundlegenden Ordnungsprinzipien und deren regelmäßiger Enttäuschung in empirischen Erlebnissen. Zwischen Franz Ackermanns Mental Maps und den Projekten der „Atlas Group“ von Walid Raad lässt sich bei allen Unterschieden in diesem Sinne tatsächlich ein gemeinsames Interesse an subjektiven, „erfundenen“ Karten festmachen.

Kartografie, wie vielleicht noch das Archiv und die Recherche, zählt zu den einflussreichsten künstlerischen Verfahren in der zeitgenössischen Kunstproduktion, was auch an Großprojekten wie der letzten documenta oder der nächsten Berlin-Biennale zu beobachten ist. Diesen beiden Ausstellungen ist ein Interesse an Kartografie schon in ihrer Ausstellungsstruktur eingeschrieben: Sie verstehen sich in gewissem Sinne selbst als Karte. „Mapping“ bezeichnet dort ein Auffächern und Abstecken des räumlichen oder thematischen Territoriums, mit dem – wie im Fall der documenta die Welt oder in der 3. Berlin-Biennale – die lokale Topografie neu vermessen werden soll.

Stets geht es in diesem Zusammenhang um eine Darstellung gesellschaftlicher Zusammenhänge in eher dokumentarischen Verfahren, denen die genannten Mittel als Vermittlungsinstrumente dienen. Kartografie kann ein großes Spektrum verschiedener Methoden und Absichten heißen – letztendlich aber meint es die Repräsentation von Gesellschaft und Raum sowie deren Zusammenhängen.

Dass die Repräsentation die Realitäten in der modellhaften Abbildung nur unzulänglich spiegelt, hat Mark Monmoniers 1991 mit ideologiekritischem Impetus als „How to Lie With Maps“ zusammengefasst, und eine systematische Sammlung üblicher Verzerrungen in kartografischen Darstellungen veröffentlicht. Die bekannteste resultiert aus der einfachen Tatsache, dass dreidimensionale Gegenstände wie die Erdoberfläche in zwei Dimensionen abgebildet werden. Monmoniers Buchtitel lehnt sich offensichtlich an Darrell Huffs „How to Lie With Statistics“ (1954) an, einem Klassiker der Konsumkritik, der in erster Linie gegen die Propaganda von Regierungsbehörden und Werbeindustrie geschrieben war.

In letzter Zeit sind Karten zu einem Untersuchungsgegenstand für jenes gesteigerte kunstwissenschaftliche Interesse an den „Bilderwelten des Wissens“ geworden, das die Abbildungen als Gegenstände historischer Darstellungsmethoden behandelt. Dass Karten unwahr sind, wäre dementsprechend weniger ein Problem, das zu lösen ist, als vielmehr eine Grundbedingung ihrer Existenz. Karten abstrahieren mit einer bestimmten Intention in einem spezifischen Wissensfeld. Erst in einer naturgetreuen Kopie, der berühmten unbrauchbaren Karte im Maßstab 1:1, könnte sich der Unterschied zwischen Repräsentation und Dargestelltem aufheben. Die kritische Kraft von Karten macht sich dementsprechend nicht an ihrer Darstellungstreue fest, sondern an ihrer Argumentation.

Der Kongress „Pläne zum Verlassen der Übersicht“, an drei Tagen im November am neu formierten Hebbel Theater in Berlin von Alice Creischer und Andreas Siekmann organisiert, setzte genau an diesem Punkt an. Als Auftakt eines künstlerischen Projekts zur Wirtschaftskrise in Argentinien, das schliesslich als Ausstellung „Ex Argentina“ im März 2004 im Kölner Museum Ludwig stattfinden wird, stellte sich für die OrganistorInnen vor allem die Frage, wie sich der übliche Duktus der distanzierten Problemdarstellung vermeiden lässt: „Wie macht man klar, dass das Politische einer Kartografie nicht im Thema liegt, sondern im Involviertsein?“. Gerade bei einem geografisch so weit entfernten Ort wie Argentinien würde in der Distanzierung verdeckt bleiben, wie eng dessen momentane Krise in die globalen ökonomischen Verschiebungen eingebunden ist.

Die Konjunktur von Kartografien, wie sie der Erfolg des von Le Monde diplomatique inzwischen in der 3. Auflage herausgegebenen „Atlas der Globalisierung“ verdeutlicht, resultiert für Creischer und Siekmann vor allem aus dem Bedürfnis nach einer Orientierung in einer sich geopolitisch reorganisierenden Welt. Die gesellschaftlichen Auswirkungen der Globalisierung werden zunehmend als Unübersichtlichkeit wahrgenommen.

Die von Philippe Rekacewicz gestalteten Karten im „Atlas der Globalisierung“ bringen die statistischen Entwicklungen in eine Form, die – wie Rekacewicz in einem Interview mit Creischer und Siekmann eingesteht – tatsächlich viel konventioneller als eigentlich notwendig ausgefallen ist. Es ist aber gerade dieser Wille zur Übersichtlichkeit, mit dem der Atlas sein Anliegen erst vermittelbar macht.

Die Redaktion der Zeitschrift An Architektur, wie Rekacewicz und „Bureau d’Etudes“ europäische Teilnehmer an „Pläne zum Verlassen der Übersicht“, versteht Kartografie als ein im Grunde genommen architektonisches Verfahren, Raum zu beschreiben und sozialräumliche Konfliktinien in eine konstruktive Darstellung zu bringen. In ihrer ersten Ausgabe erstellte An Architektur eine solche Karte des damals noch existierenden MigrantInnenlagers in Sangatte in Nordfrankreich. Sie verdeutlichte, wie der Raum durch die staatlichen Kontrollinstanzen, die illegalisierten MigrantInnen und die das Lager betreuenden Hilfsorganisation des Roten Kreuzes Frankreich konkret strukturiert wird. Die Karte versuchte eine Aussage über diesen räumlichen Zusammenhang zu vermitteln.

Was Creischer und Siekmann als eigene Involvierung einfordern, ist als Ausgangspunkt der politischen Argumentation sichtbar. Schwieriger in eine Veranstaltung zu überführen ist dagegen der ebenso interdisziplinäre wie internationalistische Ansatz von Creischer/Siekmann selbst.

In einem Projekt mit dem Kunstraum der Universität Lüneburg entwickeln Creischer und Siekmann anhand einer Aktualisierung des statistischen Atlasses von Otto Neurath und Gert Arntz von 1931 nun ebenfalls eine Reihe von komplexen Darstellungsvorschlägen gegenwärtiger Weltverhältnisse. Im Unterschied zur „Sehnsucht des Kartografen“ lassen sich die Probleme der Argentinien-Debatte immerhin als aussagekräftige Bruchstellen eines Versuchs lesen, die Repräsentation politischer Diskussionen angemessen zu gestalten, anstatt deren Unmöglichkeit gleich als gegeben anzunehmen.

Eine dritte Option in den Verhandlungen um Kartografie zeigt eine Ausstellung im Hamburger Kunstverein, organisiert von der „Galerie für Landschaftskunst“ um Till Krause und Anna Gudjónsdóttir. Ausgangspunkt der Hamburger Arbeitsgruppe ist ihre inzwischen jahrzehntelange Auseinandersetzung mit kulturellen Aneigungsformen von Raum, insbesondere in der Form von Naturdarstellungen, wie sie in Landschaftsgärten, Malerei und Karten vorkommen.

In einer sich global verändernden Welt wächst das Bedürfnis nach Orientierung

Um eine improvisiert zweckmäßige Möblierung, auf denen kleinteiligere Materialien ausgebreitet sind, gruppieren sich die Arbeiten der 17 Beteiligten in Projektinseln mit jeweils unterschiedlichen Ansätzen gegenüber dem Ausstellungsgegenstand: der Stadt Hamburg als kulturellem und ökologischem Handlungsraum. Explizit investigativ-rechercheorientierten Projekten, wie Malte Urbschats Pinnwand- Dokumentation seiner detektivischen Beobachtung der Vorgehensweisen Hamburger Sicherheitsdienste („watching u watching me“), stehen ebenso explizit an Malerei interessierte Beiträge zur Seite. Anna Gudjónsdóttirs Sammlung natürlicher Wasserfälle wird von einem großformatigen Vitrinenbild begleitet, in dem sich die Abbildung von Natur gleichsam sowohl an der Oberfläche der Leinwand wie den Spiegelungen der zwischen Landschaft und Betrachtern dazwischen gemalten musealen Schauvitrine bricht.

Der ernsthafte Untersuchungscharakter der Beiträge – auch Nils Normans großer Bildplane, die in einer überraschenden Detailtreue die ganze Hamburger Innenstadt mit einem Netz von Abenteuerspielplätzen überzieht, analog zu Aldo van Eycks realisiertem Projekt von über 700 Kinderspielplätzen für Amsterdam – resultiert nicht zuletzt aus der intensiven Recherchephase des Ausstellungsprojektes, in der die meisten Beteiligten zeitweise in Hamburg gearbeitet haben. Die Ausstellung im Kunstverein wird in den eigenen Räumen der Galerie für Landschaftskunst mit Materialien zu Künstler-Kartierungen ergänzt.

Ein Raum in der Ausstellung „gegenwärtig: Feldforschung“ in der Hamburger Kunsthalle dokumentiert zudem die eigene Ausstellungspraxis der Galerie für Landschaftskunst sowie des „Museums ferner Gegenden“. Zu Letzterem, der Hauptinstitution von Krauses und Gudjónsdóttirs Projekt, gehören außerdem die vom amerikanischen Künstler Mark Dion eingerichtete Schute als schwimmende Forschungsstation Alster, ein in Dänemark befindliches Versuchsgelände und die transportable „Reisehütte“ – eine Art Schaubude der Galerie.

Das durch die verschiedenen Räume der Hansestadt ausgebreitete Szenario erinnert in seiner komplexen Vernetzung unterschiedlicher Projekte und Arbeitskonstellationen selbst an eine Kartografie künstlerischer Verfahrensweisen. Diese lassen sich, wie in der Kunstverein-Ausstellung, nicht immer vergleichen oder auf einen Ansatz bringen. Sie können aber aus eben nur schwierig zu vermessenden Ähnlichkeiten, Sympathien oder partiell entgegenkommenden Interessen zeitweise größte Produktivität entwickeln – bisweilen launig-lokal, etwa in Zeichennachmittagen mit Kindern, oder ganz auf den Hansestadt-Charme zielende Referenzen.

Ein ähnliches Prinzip von empirischer Offenheit hat Till Krauses gerade neu aufgelegter „Kleiner Führer durch die Hansestadt Hamburg“ vorgeführt. Abkürzungsartig dokumentierte er heimliche Routen durch die Stadt – quer durch verschieden codierte Räume, jenseits der Grenzen von privat und öffentlich. Die Kunstverein-Ausstellung bringt in dieser Weise aufs Schönste divergierende Arbeitsansätze zusammen.

„Mapping a City: Hamburg Kartierung“, bis 1. 2. im Kunstverein in Hamburg. „Die Sehnsucht des Kartografen“, bis 1. 2. im Kunstverein Hannover