Die Zerbrechlichkeit aller Dinge

Mit spröder assoziativer Prosa beschrieb der polnische Autor Zygmunt Haupt einst Krieg und Heimatverlust. Seit kurzem wird sein Werk wieder entdeckt. Die Essener Literaturzeitschrift „Schreibheft“ widmet dem als „polnischen Proust“ gehandelten Schriftsteller in ihrer neuen Ausgabe einen Schwerpunkt

1939 eingezogen, emigrierte Haupt nach einer Odyssee durch Europa 1946 in die USA

von GERRIT BARTELS

„Glück, das ist Erinnerung“, heißt es in einer Erzählung von Zygmunt Haupt, „ein Stück gelebten Lebens, das einem zum Eigentum geworden ist, das einem nicht mehr fortgenommen werden kann“. Ein Glück allein ist es schon, gerade in unseren Zeiten, in denen anscheinend jeder sein Ego zwischen zwei Buchdeckel packen kann und damit auch noch Erfolg hat, wenn ein Autor wie der 1975 in den USA verstorbene und mitunter als „polnischer Proust“ bezeichnete Zygmunt Haupt überhaupt wiederentdeckt wird. Begonnen hatte damit der polnische Schriftsteller Andrzej Stasiuk, der Haupt als seinen „Lehrer“ bezeichnet und 1997 dessen einziges zu Lebzeiten veröffentlichte Buch, einen 1963 im Instytut Literacki in Paris erschienenen Erzählband, in seinem Verlag wiederöffentlichte.

Erschien nun dieser Erzählband mit dem Titel „Der Ring aus Papier“ im Frühjahr auch in deutscher Übersetzung (und drohte er gleich wieder in der Flut der Neuerscheinungen des Herbstes begraben zu werden), so wird die Wiederentdeckung dieses großartigen Autors nun von den Herausgebern der Essener Literaturzeitschrift Schreibheft gewissermaßen flankiert, ergänzt und nicht zuletzt gestärkt. Das Heft widmet Zygmunt Haupt einen Schwerpunkt, der nicht nur einige aufschlussreiche Essays und ein Interview mit dem litauischen Nobelpreisträger Czesław Miłosz enthält, sondern auch drei bislang nicht ins Deutsche übertragene Erzählungen.

Allein die erste, wie gewohnt etwas unvermittelt in der Mitte des Schreibheftes auftauchende Erzählung „Vorhut“ führt tief ins Oeuvre und die Poetologie von Zygmunt Haupt: Ein Soldat beschreibt eine Straße, auf der er einige Pferdekadaver entdeckt, und reflektiert sein geradezu libidinöses Verhältnis zu Straßen, „denn seit Jahren, Monaten und Wochen schon ist mein Zuhause eigentlich die Straße, die sich vor mir verengt, die unter mir davon läuft, die Straße, wie vertraut sind mir das Klack-klack, Klack-klack der Pferdehufe über die Straße, die von den Rädern ausgefahrenen Rillen, der alte Schotter, von Gras überwuchert an den Stellen, wo er früher in kantigen Haufen lag“. Später versucht der Soldat sich den Augenblick des Todes vorzustellen, „einmal und unwiederholbar, und egal wie ich ihn mir auch vorstellte, dieser Augenblick würde anders und unerwartet sein“.

Eine bildreiche, rhythmische und trotzdem sehr dichte und manchmal spröde Prosa kennzeichnet Haupts Erzählungen; eine Prosa, aus der sich nur schwer eine Geschichte, ein Handlungsstrang oder ein diskursiver Faden herausschälen lässt und die hauptsächlich aus Assoziationen, Abschweifungen und Bruchstücken besteht. Thematisch werden die Erzählungen dominiert von einem Gefühl dauernder Unzugehörigkeit und Verlassenheit, von Themen wie Krieg und Verlust, unerfüllter Liebe und Tod, von Fragen nach dem Sinn eines einzelnen Lebens und was jenseits davon ewig währen kann: „Werden uns hier in Gestalt des zerbrechlichen Meerschaums Nichtigkeit und Zerbrechlichkeit aller Dinge offenbar?“, fragt Haupt in der Erzählung „Ein Kavalier aus Meerschaum“: „Wird es immer so sein? Wird es immer dieses Spiel sein? Wächst man nie wirklich aus diesem Spiel heraus?“

Nicht von ungefähr basiert dieses Themenspektrum zu wesentlichen Teilen in Haupts Biografie. 1907 in Ulaszkowce geboren, einer Stadt, heute in der Westukraine gelegen und seinerzeit im östlichsten Winkel der österreich-ungarischen Monarchie, wurde Haupt 1939 als Reservist in den Krieg eingezogen, und sah seine Heimat nie wieder. Nach einer mehrjährigen Odyssee durch Europa emigrierte er schließlich 1946 nach Amerika, wo er als Rundfunkjournalist sein Geld verdiente und nebenher malte und schrieb. Mochte dieser totale Heimatverlust seine Erzählungen geprägt, wenn nicht gar erst möglich gemacht haben, so war Haupt schon in jungen Jahren, in denen er in Lemberg und Paris Architektur, Ingenieurswissenschaften und Stadtplanung studierte, stets ein Außenseiter: hin- und hergerissen zwischen der Neugier auf die Fremde und der Sehnsucht nach seiner vertrauten Umgebung, fasziniert auch vom Soldatenleben. Erst später in den USA bemächtigten sich seiner die Erinnerungen, die Haupt wiederum oft nur noch vorkamen wie „ein Bild meiner Phantasie, ungeprüft, mit keiner Wirklichkeit konfrontiert“.

Haupt schrieb, wie es seine Übersetzerin Esther Kinsky im Schreibheft erläutert, „aus der Erinnerung, in der Fremde, umgeben von einer anderen Sprache, wo nicht nur Landschaft und Begebenheiten, sondern auch die Worte selbst der Vergangenheit angehörten und immer wieder im Gedächnis gesucht und gefunden werden mussten“. Seine Erzählungen sind eine Art Autobiografie. Man kann sie auch verstehen als sehnsüchtige Beschwörung einer sprachen- und völkerreichen, völlig versunkenen Welt, ohne die es den Schriftsteller Haupt gar nicht gäbe.

Als Leser bekommt man jedoch zusätzlich den Eindruck einer völlig autonomen, sich aus der Zeit stehlenden Wirklichkeit, die Haupt entstehen lässt; einer Form, die sich „in dieser Welt der Träume aus Bruchstücken, Fetzen und Abfällen des im Gedächnis Gebliebenen“ ganz neu bildet. Haupts Erzählungen strahlen eine flirrende Intensität aus. Sie vermitteln, so man den Mut und auch den Fleiß aufbringt, sich vollständig auf sie einzulassen, eine eigene, seltsame Nähe. Diese kann nämlich ein richtiges Glück genauso bedeuten, wie sie so manche Gefährdung verursacht: Vorsicht, Weltverlust! Andrzej Stasiuk erinnert Haupts Prosa an ein Feuer, „das alles wirkliche Leben vernichtet, erfaßt, in Rauch verwandelt und aus der Welt in die Literatur gehoben hat, (…) bewegungslos und dauerhafter als alle sichtbaren Dinge“. Ein höheres Lob kann ein Dichter einem anderen wohl kaum zollen. Umso inständiger hegt man die Hoffnung, dass sich der in der Universitätsbibliothek von Stanton befindende schriftstellerische Nachlass Haupts schon bald gesichtet und veröffentlicht wird.

Schreibheft, Zeitschrift für Literatur 61, Rigodon-Verlag, Essen 2003, 10,50 €. Zygmunt Haupt: „Ein Ring aus Papier“. Erzählungen. Aus dem Polnischen, mit einem Nachwort von Esther Kinsky. Mit einem Essay von Andrzej Stasiuk. Suhrkamp, Frankfurt a. M., 348 S., 24,90 €