Treffsicher wie ein Pfeil

Zwischen kritischer Reflexion der Geschichte von Film und Fotografie und der Verführung durch das Fremde und das Vergängliche schwingen die Film- und Videoinstallationen von Fiona Tan. In der Akademie der Künste Berlin wird daraus eine Liebeserklärung an ein Gedächtnis aus Licht und Schatten

von KATRIN BETTINA MÜLLER

Ein Baby schaukelt. Am Ende einer langen Stoffbahn gleitet es in wiegender Bewegung knapp über dem laubbedeckten Boden hin und her. In „Cradle“, einem Loop aus 16-mm-Film, wird das Bild des Kindes auf ein Taschentuch projiziert. Das Filmbild selbst ist alt, eingefärbt in einen verblassenden Goldton. So wird das Filmfragment durch die Präsentation von Fiona Tan gleich mehrfach interpretiert: Es ist ebenso Bild einer weit entfernten Kindheit wie für die Kindertage des Films. Das kleine, in der Luft vibrierende Taschentuch betont die Fragilität des Filmmaterials ebenso wie das Lapidare des eingefangen Augenblicks: ein Schnipsel aus einem Archiv nur; ein sich in der Weite der dunklen Halle herumtreibendes Puzzleteilchen aus einem vergangenen Versuch, die Welt umfassend zu beschreiben. Wie vergeblich das ist und wie vergänglich, lässt sich mit diesem einzelnen Ausschnitt treffender vermitteln als mit großem Aufwand.

Poetische Verklärung und kritische Reflexion – dazwischen bewegt sich der Umgang Fiona Tans mit der Geschichte der Fotografie und des Films. Fiona Tan wurde 1966 in Indonesien geboren als Tochter eines chinesischen Vaters und einer australischen Mutter; sie wuchs in Melbourne auf, weil die Familie Indonesien unter Suharto verlassen musste, und studierte in Amsterdam. Die Familiengeschichte, das Leben in einer weit verstreuten Diaspora, bildet den Horizont ihrer Interessen. Einer ihrer Filme, „May you live in interesting times“ (1997), folgte den Spuren der Familie. Doch der biografische Anlass hat darüber hinaus zu einer ganz eigenen Sichtweise geführt. Ihre Arbeiten sind stets auch Liebeserklärungen an ein aus Licht und Schatten gewobenes Bildgedächtnis und wie sich darin Wirklichkeit und Imagination überschneiden.

Zuerst wurde Fiona Tan im Kontext der Cultural Studies wahrgenommen, da sich viele ihrer Werke auch als Reflexion über die Bildpolitiken in den Zeiten der Kolonialgeschichte lesen lassen. Aber von diesem politisch korrekten Konzept aus hat sie die Verführungsmacht der Bilder entdeckt, die mit dem Abstand und der Fremdheit wächst. So entstand 2001 „Saint Sebastian“, eine großartige und zärtliche Videoinstallation auf einer zweiseitigen Leinwand. Auf der einen Seite streichelt der Blick Nacken und Hinterköpfe einer langen Reihe junger Japanerinnen, die mit Kimono, komplizierten Frisuren und zartem Schmuck ganz in Tradition gekleidet sind und sich auf ein Bogenschießen vorbereiten. Auf der zweiten Seite darf man ihre Gesichter sehen, das Zittern der Wangen, das Verdunkeln der Augen und die Konzentration in dem Moment, in dem sie den Bogen spannen. Auf der einen Seite ist die Erwartung von unendlicher Dauer, der Zustand vor der Verwandlung. Auf der zweiten folgen Entscheidung, Konzentration, Präzision.

Fiona Tan erhielt als Erste die Erlaubnis, dieses Ritual, mit dem in einem Tempel in Kioto der Übergang in die Volljährigkeit markiert wird, mit der Kamera zu beobachten. Sie zeigt die zwei Seiten dieses Moments ganz ohne Kommentar. Die Kamera fokussiert von weitem Details und überwindet treffsicher wie die abgeschossenen Pfeile eine große Distanz: Die Ausschnitte sind intim, aber nie aufdringlich. Das Erstaunliche ist, dass man auch ohne Informationen ein Gefühl für die transformatische Energie dieser eleganten Choreografie bekommt. Das ist nicht nur ein Initiationsritual, sondern auch eine Aneignung von Geschichte, Tradition und Haltung.

2002 war Fiona Tan Stipendiatin des DAAD in Berlin: In dieser Zeit entstand „Countenance“, eine Porträt-Galerie von 200 Berlinern, geordnet nach Berufsgruppen. Nicht nur in dieser Ordnung lehnt sie sich an das fotohistorisch bekannte Werk von August Sander, „Menschen des 20. Jahrhunderts“, an, sondern auch in dem Verhältnis der Porträtierten zum Raum. Doch während es in der Zeit von August Sander eine große Entdeckung war, dass das Bild des Einzelnen nach seinem sozialen Status gemodelt ist, gilt die Überraschung heute eher dem Überdauern dieser Stilisierungen. Sanders Werk suggerierte eine Welt, in der jeder seinen Platz findet. Gerade das aber gilt heute nicht mehr, die Flexibilisierung der Arbeitswelt verlangt ständig neue Formen der Selbstrepräsentation.

Das weiß auch Fiona Tan. Tatsächlich unterscheidet sich ihre Version in einem Punkt beträchtlich von dem Werk Sanders: Sie hat die Porträts als Film aufgenommen und zeigt sie auf drei Leinwänden. Mit den dreißig Sekunden Stillstehen jedes Porträtierten, während Geräusche und Bewegungen im Hintergrund weiterlaufen, betont sie zum einen den Moment der Aufführung: Jeder gibt ein Bild von sich. Zum anderen verschwinden die Bilder auch ständig wieder. So wird die Ordnung, die hergestellt wird, auch ständig wieder aufgelöst. Sie ist eine flüchtige Konstruktion.

Fiona Tan, Akademie der Künste Berlin, bis 15. Februar. Katalog 22 €