Weihnachtsgeisterstadt

Touristenattraktion der besonderen Art: Ein Szeneviertel wie nach der Evakuierung. Nur Starbucks, die Waldorfschule und Alteinwohner trotzen der Berlinflucht an Weihnachten

Jedes Jahr ist es das Gleiche, aber in diesem waren die Umstände besonders günstig: Durch die arbeitnehmerfreundlich gelegenen Feiertage war Berlin-Mitte dieses Jahr noch länger noch leerer. Bereits am vierten Adventswochenende packten die meisten Bewohner ihre Koffer. An der Straßenbahnhalte am Zionskirchplatz, an der sonst jeden Morgen Trauben von Menschen auf die Tram zur Arbeit warten, standen am Montag nur noch Vereinzelte mit gepackten Rucksäcken und Tüten voller Geschenke. Am Dienstag stand man alleine.

Immer zu Weihnachten findet in Mitte eine Bevölkerungsmigration größeren Ausmaßes statt, wie es sie sonst hierzulande wohl nur in kleineren Studentenstädten gibt. Mitte ist der Ortsteil der Zugereisten. Und zu Weihnachten ist es der Ortsteil der Weggereisten. Die Leute, die in den letzten Jahren hierher gezogen sind, verbringen die Feiertage bei den Lieben daheim, sitzen mit den Eltern unterm Provinzweihnachtsbaum und betrinken sich anschließend in Kneipen voll mit ehemaligen Klassenkameraden.

In Mitte hingegen haben die Bars und Cafés erst gar nicht auf. Wo man auch hinschaut – Kastanienallee, Veteranen- oder Torstraße –, so gut wie alle Szenetreffs sind über die Feiertage geschlossen. Das 103 hat gleich für die ganze Woche dichtgemacht und nutzt die Zeit für Renovierungsarbeiten. Nur die Dönerbuden zeigen Durchhaltewillen und haben auch dann geöffnet, wenn gar keine Kunden in Sicht sind.

Allein in der Volksbühne und dem Kaffee Burger gab es an Heiligabend Veranstaltungen. Während in anderen Städten Weihnachtspartys zu den Feierhöhepunkte des Jahres zählen, sind die Clubs in Mitte geschlossen. Das Gleiche gilt auch für die Restaurants. In anderen Stadtteilen brummt es an den Festtagen. Spezielle Weihnachtsmenüs werden angeboten, und einen Platz bekommt nur, wer vorher reserviert hat. In Mitte haben fast alle Restaurants am ersten Weihnachtsfeiertag geschlossen, viele auch am zweiten. So auch in der Alten und Neuen Schönhauser Straße, in der sich ein Lokal an das nächste reiht. Am Donnerstag versuchte nur ein mutiger Wirt mit einem improvisierten Glühweinstand Passanten anzulocken. Vergeblich – es gab keine.

Eigentlich könnte es eine Touristenattraktion der besonderen Art sein: das ausgestorbene Szeneviertel. Doch die Touristen scheinen eher irritiert: Im Jugendhostel Circus am Rosenthaler Platz sind jede Menge junge Menschen, doch die Backpacker ziehen es vor, bei Kerzenlicht im Cafe der Herberge zu sitzen, als vor die Tür zu gehen. Den wenigen, die es zum Hackeschen Markt zieht, kann man die Verwunderung über die geschlossenen Läden und Restaurants ansehen. Als Auffangbecken für die ziellos durch die leeren Straßen der Spandauer Vorstadt spazierenden Besucher dient eine Starbucks-Filiale. Zu Weihnachten hat sich der Coffeeshop mit der örtlichen Waldorfschule zusammengetan, deren Schüler Engel mit Fingerfarben an die Fensterscheiben gemalt haben. Drinnen steht ein üppig geschmückter Weihnachtsbaum, und alle Plätze sind voll wie sonst selten im Jahr.

Zu Weihnachten gleicht Mitte einer Geisterstadt. Die Straßen sind leer, und an den Abenden brennt in den meisten der sanierten Altbauten kein Licht. Doch in den Plattenbauten, zum Beispiel denen in der Linienstraße, brennen nicht nur die Zimmerlampen, sondern auch Mengen illuminierter Weihnachtsdekorationen. An den Feiertagen gehört Mitte wieder denen, die schon immer da waren und die man sonst im Stadtbild kaum mehr wahrnimmt. Plötzlich fällt einem auf, dass auch hier noch Menschen leben, die über 50 sind. HEIKO HOFFMANN