Das Ende aller Illusionen

Gestern noch Jungs und schon heute gescheiterte Familienväter: Michael Chabons Kurzgeschichtensammlung „Junge Werwölfe“

Voilà, eine amerikanische Kurzgeschichte: „Seit mehreren Generationen“, heißt es über die Stammgäste einer dieser Bars, die nur für die tägliche Routine der Verzweiflung zu existieren scheinen, „errichteten sie eine Basilika des Versagens, deren überfüllte Friese sie selbst als lebende Inkarnationen von Bankrott, Drogenrehabilitation, Softball und Haftstrafe bevölkerten.“ Das traurige Lokal steht am Ende der Illusionen, die sich der Mann und die Frau am Tresen einmal gemacht haben mögen: auf einer verregneten Insel vor der Küste Amerikas – Amerika wie in Mittelschicht, Kleinfamilie, Vorstadt. Obwohl die beiden zum ersten Mal in diese Bar einkehren, passen sie gut hinein. „Tja“, sagt sie zu ihm. „Hat wohl keiner von uns Glück gehabt.“

Nein, Glück haben sie nicht, die Figuren von Michael Chabon, auch wenn sie ihre Strafe nicht im Knast absitzen, sondern meist in der deprimierenden Freiheit, die sich an gescheiterte Ehen anzuschließen pflegt. So stehen sie da, als hätte sie jemand aus einem sanften Schlummer gerissen und in Unterwäsche aus dem Haus getrieben: verstört und ratlos; eben noch Jungs, jetzt schon gescheiterte Familienväter. Chabon sucht sie genau dort auf, wo ihre Durchschnittsexistenz für die Literatur interessant wird: an der Schwelle zur Selbsterkenntnis. Wird sie überschritten, darf am Ende auf eine Art Erlösung gehofft werden.

So wie in „Haussuche“: In gutem Willen erstarrte Eheleute besichtigen ein Haus – zwischen ihnen ist seit längerem kein Funke mehr geflogen, nicht einmal ein Funke des Hasses, doch sie hoffen, ihre Beziehung mit Paartherapie und neuer Bleibe in ruhige Bahnen zu lenken, mehr wollen sie gar nicht. Doch als sie durch das viel zu große, unaufgeräumte Haus geführt werden, vorbei an den Spuren einer fremden Tragödie, erkennt der Mann, dass weder Ehen noch Häuser sichere Häfen sind, dass es keine Garantie für ewige Windstille gibt: „Die Ehe war sowohl ein Behältnis für den Wahnsinn zwischen Mann und Frau als auch ein zerbrechlicher Schutz davor.“ Und dann, für ein paar Momente, entkleiden sie sich zum ersten Mal wirklich voreinander, entledigen sich der Angst vor der Gewalt, die zwischen ihnen existiert, und stürzen auf einem fremden, ungemachten Bett ineinander wie nie zuvor in ihrem gemeinsamen Leben.

Mit Angst vor Komplikationen, Angst vor dem, was in ihnen stecken mag, haben sie fast alle zu kämpfen, Chabons befangene Männer, und das macht sie seltsam antriebslos – überzivilisierte Menschen, denen entfallen zu sein scheint, wozu sie auf der Welt sind. Die Kurzgeschichte ist traditionell besser zu ihnen als das Leben, und Michael Chabon ist ein wortmächtiger und eleganter Autor. Dennoch bleiben viele seiner Figuren hier etwas unbeseelt; manchmal stehen die smarten sprachlichen Bilder des Pulitzerpreisträgers in deren Befindlichkeitslandschaft herum wie Fremdkörper.

Etwas fehlt. Vielleicht ein gelegentliches Aufleuchten hinter den Fassaden dieser Geschichten, eine undeutliche Kraft, die verhindert, dass sie sich um ihr Personal schließen wie vor Enttäuschung zusammengepresste Lippen.

KARSTEN KREDEL

Michael Chabon: „Junge Werwölfe“. Aus dem Amerikanischen von Andrea Fischer, Kiepenheuer & Witsch, Köln 2003, 252 Seiten, 18.90 Euro