Schöne kleine Welt

Im Hobbykeller bauen sich die Freunde der Modelleisenbahn Abbilder einer heilen Gesellschaft. Besetzte Häuser und Vandalismus gibtes in Modellstädten wie „Mittelstadt“ oder „Kleinbach“ nicht. Und brennt es einmal, ist die freiwillige Feuerwehr längst schon unterwegs

VON CLEMENS NIEDENTHAL

An Gleis zwei ist gerade ein Fernzug abgefahren. Eine Oma winkt mit ihrem Taschentuch und sieht die Lichter im Tunnel verschwinden. Aber sie geht nicht nach Hause. Sie wird warten und winken, bis der Zug wiederkommt. Und der Zug wird bald wiederkommen. Denn im Maßstab 1:87 ist die Welt das, als was sie Martin Heidegger einmal bezeichnet hat: Eine stete Wiederkehr des Immergleichen. Schon taucht der Zug auf der anderen Seite der großen Modellbahnanlage auf. Bald wird er die winkende Oma erreichen.

Was vor mehr als 100 Jahren als exklusiver Blechkreis um den bürgerlichen Weihnachtsbaum begann, ist längst mehrspurig zur kleinbürgerlichen Freizeitbeschäftigung ausgebaut worden. Die Miniaturzüge sind vom Kinderzimmer in den Hobbykeller gedampft. Sie haben sich unterwegs vom liebgewonnenen Spielzeug in behütete Liebhaberstücke verwandelt. Auf raumgreifenden Spanplatten wird längst nicht mehr munter drauflos gespielt. Es werden Wirklichkeiten simuliert und Wahrheiten geschaffen. Zwischen Gründerzeit-Bahnhofshallen und purpurroten Miniaturgeranien werden Welten entworfen, die mimetisch nah dran sind an der so genannten Realität. Und doch weit weg von der Bahnreform und dem offensichtlichen Elend strukturschwacher Regionen. In Orten wie „Mittelstadt“ oder „Kleinbach“ prosperiert es noch, das öffentliche Leben.

Die Orte auf Modellbahnanlagen heißen zumeist, wie es der kleine Aufkleber am Bahnhofsgebäude vorgibt. Sie heißen, wie es sich die Zubehörindustrie für ihre Kunden ausgedacht hat. Ihre Namen – „Mittelstadt“ oder „Kleinbach“ eben – umspannen den Kosmos, den die landläufige Miniaturananlage repräsentiert. Das agrarisch, gerne aber auch touristisch geprägte Dorf am einen Ende der Anlage, die Kleinstadt mit Rathaus, Bahnbetriebswerk und Kirchturmspitze auf der anderen Seite. Nur selten ist Platz für ein besetztes Haus, wie es die Firma Pola 1983 in ihrem Sortiment hatte. Mit stilechten Punks und einem Ton-Steine-Scherben-Slogan auf der Backsteinfassade. Aber solche lebensstilästhetische Vielfalt stiftete dann doch einige Verwirrung unter der Modellbahngemeinde.

„Freizeit, die der liebevollen Wiedergabe von Missständen gewidmet ist, ist vergeudete Zeit“, postulierte ein Leser der Fachzeitschrift MIBA diesbezüglich sein Miniaturweltbild. Und auch Roland Gaugele, Pressesprecher des Marktführers Märklin, spricht 20 Jahre später davon, dass sich seine Branche „der schönen Bahn“ widmen und „destruktive Themen“ lieber in der Wirklichkeit belassen sollte. Keine Graffiti im Maßstab 1:87 also. Der Plastikkleber aus dem Spielzeugladen wird zum Kitt für eine heile Welt.

Eine Ausnahme mag da das brennende Fachwerkhaus darstellen, dass bereits in den siebziger Jahren von verschiedenen Herstellern von Modellbahnzubehör angeboten wurde. Aber auch hier dient das destruktive Moment einmal mehr der Darstellung bürgerlichen Gemeinsinns und tugendhaften Verhaltens: Die im Modellbahnmikrokosmos stets überproportional vertretenen Einsatzkräfte der freiwilligen Feuerwehr sind bereits ausgerückt, um das Haus zu löschen und die Ordnung und mithin die Ordentlichkeit wieder herzustellen.

Überdies kann man in dieser kleinen Szene auch eine Metapher lesen. Wo das althergebracht Schöne von Modernisierungsschüben und Abrissbirnen bedroht ist, wo der lokale Charakter der Architektur hinter globalisierten Supermarktfassaden verschwindet, darf die Modellbahnprovinz das Pittoreske beschützen und bewahren. Hier gibt es noch den Tante-Emma-Laden und die gutbürgerliche Bahnhofsgaststätte. Hier schaukeln noch Nahverkehrszüge über Nebenstrecken, die in der Realität bestenfalls zum Radweg umfunktioniert wurden. Vorausgesetzt, es saßen ein paar Grüne im Kreisparlament.

Auch das Miniaturbahnidyll ist indes eine globalisierte Welt. Globalisiert von Süden gewissermaßen. Denn es sind Alpen- und Schwarzwaldpanoramen, die sich zumeist entlang der Gips- oder Pappmachehügel erstrecken. Ganze Bündner Bergdörfer hält der Fachhandel zur authentischen Ausgestaltung der Anlage bereit. Und passend zum traditionellen Schwarzwaldhaus liefert die Firma Preiser zwei Zentimeter große Trachtenpuppen. Eine originalgetreue Seilbahn erklimmt derweil Anhöhen, auf denen gerne mal ein Hirsch röhrt. Der ist ebenfalls aus dem Hause Preiser und „hand painted in Mauritius“, wie ein Hinweis auf der Verpackung des kapitalen Zwölfenders verrät.

Und trotzdem – oder gerade deswegen – wird auch der gemeine Modelleisenbahner immer wieder zum gemeinen Modelleisenbahner. Im Hobbykeller entstehen dann Abbilder jener alltäglichen Abgründe, die in der Regel nicht in den Regalen der Einzelhändler liegen. Und die auch Roland Gaugele nicht entgangen sind.

Immer wieder, so erzählt er auf Nachfrage, landen kreative Entwürfe eifriger Modellbahnbastler auf seinem Göppinger Schreibtisch, die es wohl kaum ins reguläre Märklin-Programm schaffen werden. Nahverkehrszüge etwa, die mit Blechzange und Lötkolben in einen Zustand verwandelt wurden, der auf die kürzliche Anwesenheit übel gelaunter Fußballhooligans verweist. Oder auf die handfeste Systemkritik aufgebrachter französischer Landwirte. Aber seinen kritischen Globalisierungskommentar leistet der Modellbahndiskurs ja, wie erwähnt, auf andere Weise – und zwar als Eskapismus in die Postkartenperspektive.

Und trotzdem lohnt es sich, diese Postkarten einmal genauer anzuschauen. Immer wieder lassen sich da feine ironische Randnotizen finden. Eine Hand voll Halbstarker etwa, die sich gerade daran gemacht haben, eine Parkbank zu zerlegen. Eine Schmiererei an der Bahnhofswand, die ein oberfränkischer Modellbahner seiner Ehefrau gewidmet hat: „Iris, ich liebe dich“. Das Bordell, jenes lüsterne Korrelat pietistischer Kleinstadtprüderie, wird von der einschlägigen Zubehörindustrie sogar als Bausatz angeboten. Mit hinterleuchteten Fensterscheiben und knapp bekleideten Plastikprostituierten, die ein recht übersichtliches Verständnis von käuflicher Sexualität vermitteln.

In solchen Momenten wird die Modellbahnanlage zu dem, als was sie Harald Schmidt immer wieder interpretiert hat: Zur buchstäblich großzügigen gesellschaftlichen Versuchsanordnung. Zum Miniversum menschlichen Miteinanders.

Die große Märklin-Anlage aus der Schmidt-Show steht inzwischen übrigens an dem Ort, der zu sein sie immer vorgegeben hat – im Bahnhof von Nürtingen an der zum Liedgut geronnenen schwäbschen Eisenbahn. Es ist nicht das erste Mal, dass sich Original und Modell so nahe gekommen sind. Die Idee etwa, Schnellzuglokomotiven in werbewirksame Sonderlackierungen zu verpacken, hatte 1997 Märklin und nicht die Deutschen Bahn. Und in Architekturmodellen finden wie selbstverständlich Dinge aus dem Modellbahnzubehör Verwendung.

Orientiert sich die Wirklichkeit demnach am Ende gar an der Modelleisenbahn? Aber das wäre dann ein Fall für Jean Baudrillards Simulationstheorie.