Begehren der Kleinbürger

Coming-out der daheim Gebliebenen: In seinem Film „Ich kenn keinen – allein unter Heteros“ porträtiert Jochen Hick homosexuelle Biografien in der Provinz. Eine recht launige Art der Soziologie

VON MANFRED HERMES

Kaum hat man sich zur eigenen Homosexualität bekannt, zieht es einen auch schon von der Peripherie ins Zentrum, in die Schwulenszenen, schwulen Lebenswelten oder sogar die Schwulenhauptstädte. Es gibt aber auch Menschen, die da bleiben, wo sie sind, unter Freunden, Verwandten und im elterlichen Nest. Für seinen Film „Ich kenn keinen – allein unter Heteros“ hat Jochen Hick eine Reihe solcher Daheim-Gebliebenen-Biografien zu einem Blick in die nicht sehr bekannte Welt einer provinziellen Homosexualität zusammengefasst.

Hartmut hat ein Leben lang den Hetero gespielt, aber eine HIV-Infektion hat ihn zu einem doppelt mutigen Coming-out veranlasst. Stefan arbeitet als Förster und seine angenehm entspannte und etwas bräsige Art hat er anscheinend von seiner Mutter, die nicht nur aussieht wie Helen Vita, sondern auch deren bodenständige Wachheit hat. Uwe lebt bei seiner Mutter, unterbricht das wohlige Zwangsverhältnis aber immer wieder durch gelegentliche Tripps zu den Honigtöpfen des Landes, um dann genauso gern in die Heimat zurückzukehren.

Das war auch vor einem halben Jahrhundert nicht anders. In der Schweiz wurde Homosexualität im Jahre 1942 entkriminalisiert. Die Schwulenorganisation „Der Kreis“ veranstaltete regelmäßig Partys in Zürich. Richard und Eduard hatten es aus Schwaben nicht weit. Jochen Hick begleitet die beiden älteren Herren auf einer Ortsbesichtigung in Zürich, und so erfährt man einiges über die Organisation des homosexuellen Begehrens in den Vierziger- und Fünfzigerjahren. Hick besucht Eduard aber auch in seiner präsentablen Wohnung, wo ihm schöne Antiquitäten und eine Buchrückenattrappe gezeigt werden, die als Versteck für den Fernseher dient. Da kommt natürlich Komik auf, so wie „Ich kenn keinen“ überhaupt eine recht launige Soziologie treibt.

Im besten Fall lassen einen der Witz der Porträtierten und ihre Unerschrockenheit schmunzeln. Im schlechtesten wendet sich der Film gegen seine Figuren, und das kommt nicht selten vor. Denn als Dokumentarist nimmt Hick mit, was er kriegen kann. Er greint über Zinkteller- und Stoffbärenparaden, weckt Erinnerungen an herbe Wohnungsdünste und richtet sich nicht ungern an Schmerz- oder Schamgrenzen auf. Dabei neigt er dazu, Überdeutliches immer noch etwas zu verstärken. Regelmäßig legt er eine loungy Musik über die Bilder und verniedlicht so vor allem die Teile, die homosexuelle Privatsphären zeigen: Kleinbürger-Klatschen geht bei Schwulen und Heteros gleich gut.

Wer sich mit an den Stammtisch der Bürger setzt, der wird sich nicht darüber wundern können, über Maultaschen und Schlachtplatten hinweg eher reservierte, wenn nicht grob schwulenfeindliche Bemerkungen aufzuschnappen. Er wird vielmehr davon ausgehen, dass es so kommt. Ein nicht geringer Teil des Humors von „Ich kenn keinen“ geht auf Kosten eines heterosexuellen Unbehagens an schwulen Dingen. Gequälte Toleranzedikte, besserwisserische Moralismen („Nicht gottgewollt“), Unverständnis („Die Arschfickerey, des kann isch mer net so rescht vorstelle“) und schnellen Schlüssen wie dem, dass man „vun dänne“ ja eigentlich sowieso keine kennen würde. Solche Äußerungen werden von Hick als besonders typisch hingestellt und in dieser Form dann an ein schwules oder doch großstädtischen Publikum als Schenkelklopfer weitergeleitet. Es schwingt dabei immer eine Homosexualität als einheitliche Substanz oder Religion mit, deren Kommunion das „Coming-out“ und deren Gebet das ständige Bekenntnis ist.

Dabei belegt „Ich kenn keinen“ genau das Gegenteil dessen, was dem allgemeinen Amüsement so freigebig vorgelegt wird. Nicht nur Piercingstudios oder Yogaschulen sickern in die Kleinstadt und aufs Land durch, sondern auch neue Begriffe, Denkmuster und soziale Modelle. Die in „Ich kenn keinen“ porträtierten Schwulen scheinen ganz komfortabel zu leben, sozial eingebunden zu sein und die Momente von Verzweiflung oder Tragik jedenfalls weit zurückzuliegen. Gemeinsame Stammtische und Urlaubsfahrten nach Thailand, erfolgreich verlaufene HIV-Bekenntnisse, Mütter, die sich um die Anerkennung von Schwulen durch die Kirchen bemühen – was will man mehr?

„Ich kenn keinen – allein unter Heteros“. Regie: Jochen Hick. Deutschland 2003