Kopfjagd, Kunst und Kolonialismus

Eingekeilt zwischen vermeintlichem Idyll, wissenschaftlicher Aufarbeitung und aktuellen ethnischen Konflikten: Das Museum für Völkerkunde zeigt im Rahmen der Reihe „Der innere Reichtum“, welche Exponate durch die Hamburger Südsee-Expedition zwischen 1908 und 1910 in die Sammlung kamen

von HAJO SCHIFF

Die Premiere hat einige Verspätung, fällt aber um so großartiger aus: Erstmals würdigt eine umfassende Ausstellung, was durch die Hamburger Südsee-Expedition von 1908 bis 1910 ins Museum für Völkerkunde gelangte – denn der allergrößte Teil der 15.000 Objekte wurde hier noch nie öffentlich gezeigt. Auch diese Ausstellungsentdeckung steht in der Reihe „Der innere Reichtum des Museums“, ein Konzept, das vorsieht, die zu 95 Prozent nie gezeigten Objekte des Hauses zu sichten und sichtbar zu machen, eine Gesamtinventur durchzuführen und endlich eine nutzbare Archivierung zu schaffen.

In früheren Zeiten war das Engagement für die Kultur und die Ethnologie in Hamburg von bemerkenswertem Umfang. Im Umkreis der Bemühungen zur Gründung einer Universität in Hamburg, nur ein Jahr nach der 1907 erfolgten Gründung der bis heute hilfreichen Hamburgischen Wissenschaftlichen Stiftung, wurde im Auftrag des damaligen Museumsdirektors Georg Thilenius von der HAPG der Dampfer PEIHO (chinesisch: Drache) gechartert und eine mehr als zweijährige Expedition unternommen: Sechs deutsche Wissenschaftler, acht europäische Schiffsoffiziere, zwei Dolmetscher, zwölf Diener, zwölf Soldaten und eine Mannschaft von 38 Chinesen erkundeten die Südseeregionen von Melanesien und Mikronesien, die passenderweise zu weiten Teilen von 1885 bis 1918 zum Kolonialgebiet des Deutschen Kaiserreiches gehörten.

Die jetzige Ausstellung stellt in dem Bemühen, das Material erlebnishaft aufzubereiten, den einstigen Zugang nach, zumal der ja im Wesentlichen bis heute die europäische Sichtweise ist. So beginnt der Rundgang durch die von zwei Künstlern gestaltete Ausstellung mit einer Inszenierung des Forschungsdampfers samt Steuerraum mit Seekarten und Schiffsjournal sowie einer Kajüte mit der Staffelei des damals die Expedition begleitenden Hamburger Kunstmalers. Ein „Meer“ mit Auslegerbooten, über denen am Ladebaum des Expeditionsschiffes ein Bündel Speere schwebt, breitet sich in hellem Licht vor den Besuchern aus. An Land findet sich als Erstes der Sammelplatz mit Kisten von Tausch- und Sammlungsgut. Erst im Hintergrund des Raumes beginnt das Dunkel eines aus Tarnnetzen theatralisch gestalteten „Urwaldes“ samt eingespielten Vogelrufen. Dort ist nicht nur ein Tanzplatz, sondern fast ein ganzes Dorf mit zwei Wohnhütten und zwei Männer- bzw. Zeremonialhäusern nachgebaut.

Auf das erste Jahr der Expedition, also auf die Fahrten in Melanesien beschränkt, sind über 2500 Objekte zu entdecken: doppelgeschlechtliche Figuren, Masken, übermodellierte Ahnenschädel, Objekte des Alltags ebenso wie solche zur rituellen Kopfjagd. Dabei sind besonders die Malagan-Schnitzereien mit ihrer aufwendigen Durchbruchsarbeit seit langem auch als Kunstwerke geschätzt. Da diese Figuren zu Totenfesten in speziellen Schauhütten aufgestellt wurden, dürften sie sich auch in Museumsvitrinen recht wohl fühlen, zumal die ozeanischen Hersteller die kunstvollen Objekte nach der einmaligen Benutzung für kultisch wertlos halten und gerne gegen beispielsweise eine Eisenaxt getauscht haben.

Ständig sind die Besucher auf den über 1.000 Quadratmetern zwischen der Inszenierung des Fremden, der phantasieanregenden Bewunderung der hochartifiziellen Kunstfertigkeit der Objekte und dem Wunsch hin- und hergerissen, sich anhand der zahlreichen Texttafeln eher objektiv zu informieren – wobei die Wissenschaft allerdings bis heute nicht alle Rätsel dieser tropischen Kulturen gelöst hat. Noch der das damals erforschte Gebiet heute einnehmende Staat Papua-Neuguinea hat etwa 800 verschiedene Sprach- und Kulturformen, eine hochgradige, kaum beherrschbare Ausdifferenzierung, die unendliche interne Auseinandersetzungen zur Folge hat, von der historischen Kopfjagd bis heute: Am Ende der Ausstellung finden sich unter den Porträtfotos heutiger Bewohner deren Geschichten von ihrem Leben zwischen Tradition und globalisiertem Alltag.

Hat der Besucher im Halbdunkel zwischen den Masken den Bildschirm entdeckt, sind Filme zu sehen, die zeigen, dass die ganzen fremdartigen, trotz aller Schönheit für uns doch eher stummen Dinge immer Teil von lebendigen, komplexen Ritualen sind. Und die werden noch heute durchgeführt – und sei es zu einer Feuerfeier im Anschluss an den Kauf eines Autos.

Hamburg: Südsee. Expedition ins „Paradies“, Museum für Völkerkunde, Rothenbaumchaussee 64; Di–So 10–18, Do bis 21 Uhr; bis 20. Juni 2004. Als Katalog erschien mit zahlreichen wissenschaftlichen Essays zum Thema Band 33 der „Mitteilungen aus dem Museum für Völkerkunde Hamburg“, 464 Seiten, 16,90 Euro