Goldadern im kaukasischen Schlamm

Der größte „legale“ Schmugglermarkt im Kaukasus bietet zehntausenden die einzige EinnahmequelleWenn ein Jugendlicher beim Zoll oder der Polizei einen Job ergattert, dann hat er ausgesorgt

aus Zchinwali KLAUS-HELGE DONATH

Reisende in Pkws haben an diesem Morgen Glück. Die Soldaten am Kontrollpunkt sind bester Laune. Kleine Fische werden heute mal nicht im Netz der individuellen Maut gefangen, sondern durchgewunken. Seit zwölf Jahren stehen russische Blauhelme an der Demarkationslinie zwischen Georgien und der abtrünnigen Republik Südossetien. Blut fließt nicht mehr, aber näher gekommen sind sich die Gegner nicht. Beide Seiten tragen daran Schuld, und dass sich daran nichts ändert, darüber wachen russische Militärs, die in selten tadellosen Uniformen stecken: Soldat sein bringt an diesem Ort etwas ein.

Hinter den Betonquadern wird die Straße schlechter. Zwei Kilometer weiter ist kein Durchkommen mehr. Menschengewimmel und grabenbreite Schlaglöcher behindern die Weiterfahrt. Motorisierte Dreiräder und Pkws in Schieflage kriechen auf Restasphalt und Sandstreifen vorwärts. Der Himmel ist wolkenverhangen, einzige Farbtupfer sind das Gelb und Orange der Mandarinen auf den Ladeflächen der Wagen.

Nodar hat den Kofferraum seines klapprigen Wolgas bis oben hin mit hellgelben Mandarinen gefüllt. Seit zwei Tagen ist er auf dem Markt und wartet auf einen Käufer. Nodar stammt aus dem 350 Kilometer entfernten Adscharien an der türkischen Grenze. Wie tausende seiner Landsleute ist der ehemalige Ingenieur einer Brotfabrik arbeitslos, mit Handel und Landwirtschaft hält er die Großfamilie mehr schlecht als recht über Wasser. Er hofft auf dem Rückweg ohne „Abgaben“ davonzukommen. Glücklicherweise stünden an der Grenze nur Russen, lacht Nodar: „Georgier nehmen's sogar von den Toten.“

Aus dem Konfliktgebiet jenseits der Grenze hat sich die georgische Armee anscheinend ganz zurückgezogen. Warum? Um Provokationen aus dem Weg zu gehen oder aus Schwäche? Dem Adscharen ist das egal. Jeder kämpft in Georgien ausschließlich für sich, im Moment zumindest noch. Schon vor dem Grenzgebiet sind Ortsschilder und Hinweise nur noch auf Russisch. Buntheit und Lebensfreude, die im Kaukasus das Leben ungeachtet der vielen existenziellen Sorgen lebenswert machen, weichen, je näher man der Grenze kommt.

Der riesige Markt oberhalb der Hauptstadt Südossetiens, Zchinwali, ist das Herz, das die gesamte Region versorgt. Alles ist zu haben: von Benzin über Zigaretten und Autoersatzteile bis zu Makkaroni und Bienenhonig. Selbst Waffen aller Gattungen und Größen soll es geben, behauptet der Geheimdienstchef Georgiens. Auszuschließen ist es nicht. Auch Anna Tschotschijewa, die in Zchinwali eine kleine hektografierte Frauenzeitschrift namens Amaga herausgibt, hegt daran wenig Zweifel. Es sei auch kein Geheimnis, dass an der Grenze zu Nordossetien tschetschenische Rebellen gegen 200 Dollar ohne Probleme und Warteschlange nach Russland hinüberschlüpfen können, meint die Südossetin.

Auf den Umschlagplatz hat Tiflis keinen Zugriff, seit Jahren ist er den georgischen Behörden ein Dorn im Auge. Zchinwali ist der größte „legale“ Schmugglermarkt im Kaukasus. Für einen Teil der rund 90.000 Südosseten bietet er die einzige Einnahmequelle. Am meisten profitieren Polizei und Zoll, meint Anna Tschotschijewa, die in der mit mannshohen Kratern übersäten Karl-Marx-Straße wohnt. „Wenn ein Jugendlicher beim Zoll oder der Polizei einen Job ergattert, dann hat er ausgesorgt.“ Nur die wenigsten schaffen das. Mehr als die Hälfte der Jugend sitzt auf der Straße. Genauer: im Käfig am Fuße des Kaukasus. Denn die Selbstständigkeit Südossetiens ist international nicht anerkannt, die Ausweispapiere mit dem Wappentier des Schneeleoparden sind wertlos. 60 Prozent der Einwohner haben zwar einen russischen Pass, aber bei den Verwandten in Nordossetien im russischen Nordkaukasus gibt es ebenfalls kaum Arbeit.

Wer bei den Kräften des Innenministeriums unterkommt, kann indes vorsorgen. Ihre Posten kontrollieren den Kontrollpunkt hinter dem Marktareal, bei der Ausfahrt Richtung Russland. Die jungen Männer tragen russische Uniformen mit russischen Hoheitszeichen und Kalschnikows. Sie alle stammen aber aus Südossetien. Internationales Recht und territoriale Integrität? So genau nimmt es der Nachbar im Norden nicht. Schließlich ist Südossetien nicht Tschetschenien und ein Stachel im georgischen Fleisch willkommen. Nicht verwunderlich, wenn Georgien in den Friedenstruppen aus Russland eher Besatzer und Provokateure sieht.

Die „Transkama“, die Transkaukasische Magistrale, klettert bis zur Passhöhe bei Zema-Roka auf 3.000 Meter hoch. Sie ist für alle Beschäftigten entlang der Trasse eine Goldader, vor allem aber für die korrupte Beamtenschaft. Der hochmoderne Zollterminal hat an den Abfertigungsbedingungen nichts verbessert. Unter zwei Tagen Wartezeit komme man nicht rüber, erzählt Tschotschijewa. Nur wer zahlt, werde auch bevorzugt behandelt. Bürger mit 200 oder 300 Rubel Durchschnittslohn im Monat (6–10 Euro) könnten sich das aber nicht leisten.

Die südossetische Kontrolle vor der Einfahrt nach Zchinwali ist scharf und abweisend, aus der Abneigung gegenüber neugierigen Ausländern macht sie kein Hehl. Wohin geht die Fahrt, wen trifft man in Zchinwali? Fotografieren sei verboten, heißt es, bar jeder Rechtsgrundlage. Misstrauen herrscht, wie nebenan in Russland wieder.

Überhaupt hat dieser armselige Flecken sehr viel Ähnlichkeiten mit dem Nachbarn. Der Markt, obschon seit zehn Jahren in Betrieb, gleicht einem Provisorium. Die Wege starren vor knöchelhohem Matsch, die Straße ist kaum befahrbar. Riesige Benzintanks lagern behelfsmäßig auf wackeligen Bruchsteinen. Dazwischen dösen Lkw-Fahrer aus Russland in der Hoffnung auf eine neue Fuhre. Ein Heerestross oder Nomadenvolk könnte hier Lager bezogen haben.

Zchinwali liegt in einer Mulde. Von der höher gelegenen Zufahrtsstraße aus nahmen georgische Truppen 1991 die Stadt unter Beschuss. Zuvor hatten die Südosseten ihren Austritt aus Georgien verkündet, aus Protest gegen die Aufhebung der Autonomie der Republik, die der erste Präsident des unabhängigen Georgiens verfügt hatte. Unter der hasserfüllten nationalistischen Politik des bald verjagten Staatsoberhauptes Swiad Gamsachurdia hat Tiflis bis heute zu leiden. Den Konflikt hat es selbst entfacht, Moskau schaltete sich erst später ein. Die Osseten haben bei alldem nur die Rolle der Statisten inne.

„Eigentlich ist Stalin schuld“, meint Roman, der im Immobiliengeschäft in Tiflis tätig ist. „Warum hat er damals ethnischen Minderheiten eine Sonderrolle zugesprochen?“ Sie alle seien schließlich Georgier. Trotz dieser Vorbehalte steht der Diktator, der große Sohn Georgiens, hoch im Kurs. Dass Stalin der Kommunistischen Partei der Sowjetunion die Macht in den ethnischen Republiken sichern wollte, indem er „divide et impera“ zum Leitmotiv der Nationalitätenpolitik erhob, ist zwar kein Geheimnis, doch wollen viele es nicht wahrhaben. In Gori 30 Kilometer südlich von Zchinwali wurde Stalin geboren, seine Rolle als Identifikationsfigur hat er immer noch nicht ganz verloren. Der einfache Georgier verehrt ihn, weil er „Eigensinn“ gezeigt habe, sich von nichts beirren ließ. Dieser Starrsinn habe bei den Georgiern einen Kult unbegrenzter Macht und ein Gefühl individueller und gruppenbezogener Dominanz freigelegt, meint der Sozialpsychologe Georgi Nischaradse von der Uni Tiflis, die als Archetypen seit je im Georgier schlummerten. Der Massenschlächter Stalin taucht in diesem Bild nicht auf.

Wie schwer das Miteinander ist, gibt auch Anna Tschotschijewa zu, die sich im Rahmen der NGO „Kaukasische Frauenliga“ mit Georgierinnen trifft. Auch sie ist noch befangen. Immer wieder überlagert die Frage nach einer gemeinsamen Zukunft die Feststellung: Wer war zuerst da? Georgier oder Osseten, die ihre Herkunft vom persischen Volk der Alanen herleiten?

Absurde Streitpunkte vor dem Hintergrund der gotterbärmlichen Lebensumstände in Zchinwali. In den zerschossenen Häusern am Ortseingang stapelten sich im Krieg 1991 Leichen, die man nicht bestatten konnte. Kaum ein Haus ist wieder hergerichtet worden, kein neues hinzugekommen. Im Kaufhaus der Stadt hüllen sich die Verkäuferinnen in Decken und Mäntel, es ist bitterkalt und schummrig. Der Strom wird rationiert. Am Schaufenster hängt als einzige Werbung ein Plakat der Kremlpartei „Einiges Russland“, Moskau hat auch in Südossetien wählen lassen. Die ältere Händlerin mit eingelegten Weintrauben und Nüssen vor dem zentralen Univermag, dem Kaufhaus, tut so, als würde sie die Frage nach den Wahlen nicht verstehen. Die Sprache kann es nicht sein. Alles spricht Russisch und ist russisch. So sehr, dass ein Polizist den georgischen Fahrer anschnauzt, warum Führer- und Fahrzeugschein auf Georgisch ausgestellt seien. Der Fahrer zögert und sagt dann: „Weil wir in Georgien sind.“ Erst nach einer halben Stunde macht er wieder den Mund auf: „Das war doch wie in einem Totenhaus.“ Er sagt es und langsam kehrt die Lebensfreude zurück.