„Das Individuum ist entfremdet“

INTERVIEW DOROTHEA HAHN

taz: Herr Ewald, Sie sind Risikoexperte. Was halten Sie für die größten Risiken der Gegenwart?

François Ewald: Das erste große Risiko ist der Krieg. Und der Terrorismus.

Ist das denn für Sie ein und dasselbe?

Der Unterschied ist gering. Vielleicht befinden wir uns schon im III. Weltkrieg. Und bloß die Franzosen und die Deutschen tun so, als ob das nicht existierte.

Und wann soll dieser III. Weltkrieg begonnen haben?

Mit dem Fall der Mauer. Das führt zum ersten Golfkrieg im Jahr 1991. Daraus entsteht al-Qaida und das erste Attentat im World Trade Center im Jahr 1993.

Das geht aber schnell bei Ihnen, Herr Ewald. Der Krieg in Afghanistan – und die islamistische Untergrundaktivität sowie die Aufrüstung von Bin Laden – lief aber schon seit 1979.

Stimmt. Aber die US-Intervention im Irak in 1991 zeigt, dass die militärische Überlegenheit der USA so stark ist, dass die Bekämpfung dieser Macht nur mit anderen Mitteln geführt werden kann. Zum Beispiel mit dem Terrorismus. Das ist der Krieg gegen den Okzident. Das ganze Leben wird sich neu definieren.

Sie waren Befürworter des zweiten Kriegs gegen den Irak im vergangenen Frühjahr?

Der 11. September war eine echte Kriegserklärung. Die Kraftprobe wurde unvermeidbar. Seither sind wir in eine Welt eingetreten, die ganz anders ist als jene von 1945. Bis 2000 war man 50 Jahre lang der Ansicht, der Krieg müsse verboten werden. Jetzt befinden wir uns in einer Welt, in der man nicht nur auf einen Krieg vorbereitet sein, sondern ihn auch führen können muss. Europa fehlen dazu die nötigen Kapazitäten. Es braucht jedes Mal die Amerikaner, um Krieg zu führen.

Welche andere großen Risiken sehen Sie?

Wirtschaftliche Risiken, die mit der Globalisierung zusammenhängen und die besonders die Unternehmer spüren. Und dann gibt es noch die ökologischen Risiken. Kurz vor dem Jahr 2004 sind wir wieder bei einer katastrophistischen Vision angelangt, bei Ängsten vor einer Klimaerhitzung und anderen Weltkatastrophen. Dergleichen stand schon am Anfang der christlichen Zivilisation.

Vom sozialen Risiko sprechen Sie gar nicht. Dabei geht der Bettler, der wenige Meter von Ihrem Büro entfernt auf dem Pariser Boulevard Haussmann sitzt, angesichts der gefährlich tiefen Temperaturen jede Nacht größere Risiken ein als die meisten Unternehmer.

Seit der Krise der 70er- und 80er-Jahre gibt es das Risiko der Ausgrenzung – ein Risiko der Existenz. Es handelt sich um Risiken, nicht in die soziale Norm hineinzukommen. Sie existieren. Aber wenn ich dies nicht moralisch oder sentimental, sondern vom Blickwinkel der strukturierenden sozialen Organisation aus betrachte, würde ich diese Risiken nicht an erster Stelle nennen. Ich glaube, auf eine gewisse Art ist das Schicksal dieser Leute mit den Risiken der Unternehmen verbunden. Und der Art, in der sie die Risiken verwalten.

Die sozial Schwachen stellen einen großen Teil der Weltbevölkerung dar. Sie sind zahlreicher als die Unternehmer.

Die Risiken des Unternehmens betreffen nicht nur den Unternehmer, sondern alle Teilnehmerparteien. Was Europa charakterisiert, abgesehen von einer gewissen Gruppe von Leuten, die ausgegrenzt ist, haben wir dank der sozialen Sicherungen Existenzformen geschaffen, die von der Not befreit sind.

Dennoch nimmt Armut zu.

Die Armen sind extrem abhängig von sozialen und politischen Systemen. Daher kommt das Gefühl einer großen Unsicherheit gegenüber Systemen auf, die man reformieren muss, damit sie weiter existieren. Und von denen man befürchten kann, dass die Reformen die Rechte verringert und auch die Existenzformen jener, die davon abhängen. Das ist der Widerspruch unserer Gesellschaften: Wir leben dank des Vorsorgestaates, von dem wir immer stärker abhängen. Der Vorsorgestaat kann aber nur weiterleben, wenn er sich reformiert.

Sie betrachten das, was Sie „Vorsorgestaat“ nennen, als schädliche Instanz?

Ich habe kein Werturteil. Er ist komplett strukturierend in unseren Lebensformen. Das Bewusstsein des Individuums heute ist komplett entfremdet. Es ist völlig abhängig von dem kollektiven System, dank dessen es existiert. Das ist eine Form der Entfremdung. Ich denke, dass dieser Zustand des Individuums nur vorübergehender Natur sein kann. Die Widersprüche explodieren heute allerorten.

Was bieten Sie als Ersatz, wenn Sie den „Vorsorgestaat“ abschaffen wollen?

In der gegenwärtigen Periode geht es nicht darum, den Vorsorgestaat in Europa abzuschaffen, sondern ihn so zu verändern, dass er ökonomisch effizienter und moralisch gerechter wird. Es handelt sich um seine progressive Anpassung. Dabei müssen eine Reihe von Imperativen respektiert werden: ökonomische Imperative, um effizientere Budgets zu bekommen. Ethische, um das System zu moralisieren. Wenn Sie beispielsweise das System der Arbeitslosenversicherung umwandeln wollen, um vom „Wellfare“ zum „Workfare“ zu kommen, wollen Sie erstens ökonomisch effizienter werden und die Zeit der Arbeitslosigkeit so kurz wie möglich machen und zweitens die Rechte der Person so gut wie möglich respektieren. Außerdem wollen Sie das Risiko gering halten, dass das eintritt, was die Versicherer den „moralischen Zufall“ nennen. Dass die Individuen die Schutzmechanismen ausnutzen. Dass sie diese Mechanismen benutzen, um das Risiko überhaupt erst zu schaffen.

Herr Ewald, was war der Wendepunkt in der Geschichte des Sozialstaats?

In den 70er-Jahren haben wir festgestellt, dass unsere ökonomische Organisation nicht unendlich weitergehen kann. Da tauchten Korporatismen auf, die sich organisieren, um sich zu verteidigen. In dieser Schlacht befinden wir uns auch heute noch.

Wen meinen Sie?

Die meisten Gewerkschaften. Die Vereinigungen. Alles, was man landläufig „soziale Bewegungen“ nennt. Das sind konservative Bewegungen, die den Rückschritt wollen. Der kategorische Imperativ muss aber sein: Man muss dafür sorgen, dass alle arbeiten können. Stattdessen gibt es in Frankreich das, was eine Präferenz für die Arbeitslosigkeit genannt wird. Es gibt Leute, die von dem System profitieren und sich organisieren, um es zu verteidigen. Ganz egal, wie hoch die Kosten für die anderen sind, die nicht davon profitieren.

Wir erklären Sie, dass sich Gesellschaften, die weniger strukturiert und weniger wohlhabend waren, im 19. Jahrhundert die Anfänge eines Systems von Sozialversorgung ausgedacht haben, das heute angeblich nicht mehr finanzierbar ist?

Im 19. Jahrhundert gab es keinen Wohlfahrtsstaat. Da gab es paternalistische Organisationen der Arbeit und der Unternehmen in beschränkten Bereichen der Wirtschaft. Die Vorkehrungen sind erst nach dem Zweiten Weltkrieg in Kraft getreten. Das geschah in Europa gleichzeitig.

Damals regierten ganz unterschiedliche Kräfte in Europa. Westdeutschland war christdemokratisch regiert. In Frankreich waren die Kommunisten stärkste Partei.

Die Sozialversorgungssysteme sind in manchen Ländern von der Linken, in anderen von der Rechten umgesetzt worden. Aber die Resultate sind nicht weit voneinander entfernt. Das dahinter stehende Denksystem ist überall gleich: sozial und mit der Industriegesellschaft verbunden.

Es gab also schon vor der Existenz der EU eine Gleichzeitigkeit in der europäischen Sozialpolitik? Mit dem Unterschied, dass es in der Nachkriegszeit um den Aufbau von Sozialsystemen ging, während sie heute abgebaut werden?

Niemand will den Vorsorgestaat zerstören. Jedenfalls sind die Institutionen, die wir geschaffen haben und die wir Vorsorgestaat nennen, der eigentliche soziale Rahmen der Gesellschaft heute. Je mehr sich der Vorsorgestaat entwickelt hat, desto stärker sind die traditionellen Institutionen verschwunden. Je mehr Sie den Vorsorgestaat entwickeln, desto weniger brauchen Sie die Familie. In der Familie als traditioneller Form ging es auch um die Verwaltung von Risiken – von der Erneuerung der Generationen bis zum Hungerrisiko.

Sind Sie nicht gerade dabei, eine Folge der Industrialisierung – die Veränderung der Familienstrukturen – in eine Folge der Sozialversicherung umzuwidmen?

Das ist nicht exklusiv. Man stellt einfach fest: Der Vorsorgestaat hat traditionelle Mechanismen der Risikodeckung absorbiert. Auf eine Art, die die Existenzen der Individuen in unseren Gesellschaften sehr abhängig gemacht hat. Die Reform der Mechanismen dieser Systeme ist daher sehr heikel.

Sie zeichnen ein Bild, bei dem Sie mit Empfang und Missbrauch sozialer Leistungen jonglieren.

Da geht es um sehr viele verschiedene Dinge. Sie haben beispielsweise eine Arbeit. Aber Sie wollen nicht, dass man die Organisation modifiziert oder dass man die Kosten verändert. Sie wollen Ihren Status erhalten. Das bedeutet, dass eine gewisse Menge an Leuten keine Arbeit haben. Sie teilen nicht.

Wo bleibt die soziale Gerechtigkeit, wenn die sozial Schwächsten den höchsten Preis zahlen? Teilzeitarbeiter, Niedriglohnempfänger, Arbeitslose?

Man will den Vorsorgestaat ja gerade reformieren, um die Zahl der Hilfeempfänger zu reduzieren. Wenn man diese Systeme reformiert, müssen sie stärker und zielgenauer gemacht werden. In der Hoffnung, dass die Leute dank der Reformen Arbeit finden können. Und nicht mehr dazu verdammt sind, ewig dank der Hilfe zu leben. Es ist noch ungerechter, wenn Leute von einer Über-Ausschüttung profitieren können, die sie nicht unbedingt brauchen.

Herr Ewald, welches europäische Land regelt seine Sozialversorgung am besten?

Jene Länder, in denen die Arbeitslosigkeit am niedrigsten ist. Schweden. Und England.

Dank des britischen Sozialkahlschlags haben wir inzwischen alle den Ausdruck „working poor“ gelernt.

Ja. Aber wer sagt Ihnen, dass dieses Phänomen definitiv ist?

Wenn jemand dazu verdammt ist, für einen Elendslohn zu arbeiten, ist schon eine Übergangszeit zu lang.

Man kann immer von einer Gesellschaft träumen, in der die Unglücklichen verschwunden sind. Aber dazu muss man sehr gläubig sein. Wenn wir diese Systeme nicht reformieren, gehen wir kollektiv zu noch mehr „working poor“. Wenn man ein Maximum von Arbeit an ein Maximum der Leute gibt, werden die Dinge besser gehen.

Halten Sie die gegenwärtige rechte Mehrheit in Frankreich für geeignet, den Staat in der Richtung zu ändern, die Sie für nötig halten?

Sie organisiert einen sehr konservativen Konsens.

Vorhin haben Sie die linken sozialen Bewegungen „konservativ“ genannt, jetzt ist Präsident Chirac ein Konservativer.

Chirac macht eine Politik der 80 Prozent, die ihn gewählt haben. Er will absolut keine rechte Politik machen. Er will die ganze Gesellschaft anvisieren.

Risikoforscher wie Sie teilen die Menschen in risikophile und risikophobe ein. Ist Chirac also ein risikophober Politiker?

Er ist vielleicht getragen vom Gefühl einer sehr zerbrechlichen Gesellschaft.