Das Paradox des Wohlbefindens

Jobs werden unsicherer, das Leben ungerechter, die Menschen einsamer – so die Mythen über Deutschland. Die Wirklichkeit sieht anders aus

VON BARBARA DRIBBUSCH

Die Sache mit den Bangladeschis hat viel Wirbel verursacht – diese Ergebnisse der Glücksforschung, nach denen sich die Bewohner des asiatischen Staates glücklicher schätzen als etwa die Deutschen. Ausgerechnet das arme Bangladesch! Ist also das Wohlbefinden gar nicht so stark abhängig von materieller Sicherheit, sondern vielmehr eine Frage der inneren Einstellung? Die Einstellung versaut jedenfalls oft die Stimmung – eine große Rolle spielen dabei die Mythen darüber, dass alles immer schlimmer wird.

Mythos I: Die Arbeitsverhältnisse werden immer unsicherer.

Es stimmt nicht, dass die Erwerbstätigen heute öfter die Firma wechseln als früher und viele Leute ungesichert mit befristeten Verträgen ackern. „Die durchschnittliche Dauer der Betriebszugehörigkeit, etwa zehn Jahre, ist in Deutschland gleich geblieben“, sagt der Industriesoziologe Gerhard Bosch vom Institut für Arbeit und Technik (IAT). Der Anteil der befristeten Beschäftigung ist vor allem bei jüngeren Leuten gestiegen. Von den 25- bis 29-Jährigen haben 14 Prozent einen Zeitvertrag, bei den 45- bis 54-jährigen Beschäftigten sind es aber nur 4 Prozent.

Allerdings ist es heute „schwieriger als früher, Beruf und Privatleben zu koordinieren“, erklärt Bosch. Frauen sind heute stärker ins Erwerbsleben integriert und können und wollen nicht mehr automatisch dem Mann folgen, wenn dieser Stelle und Wohnort wechseln muss. Diese schwierige Koordination sorgt „für eine gewisse Verunsicherung“, so Bosch.

Außerdem schüren die Arbeitslosenzahlen, die allmonatlich über den Bildschirm flimmern, große Ängste, selbst zu den Abgemeierten zu gehören. Das Problem sind also nicht die unsicheren Arbeitsverhältnisse, sondern der Ausschluss jener, die nicht mal mehr die Chance auf einen befristeten Job haben – die Älteren, gesundheitlich Angeschlagenen, Ungelernten.

Mythos II: Die Reichen werden immer reicher, und der kleine Mann muss für alles die Zeche zahlen.

Es stimmt zwar, dass sich die Ungleichheit zwischen den reichen und armen Haushalten vergrößert hat. So verloren die beiden ärmsten Fünftel der westdeutschen Haushalte an Vermögen, während die beiden reichsten Fünftel zulegen konnten. Dramatisch aber ist nicht so sehr die Veränderung bei den Mittelschichten, sondern der Absturz der Ärmsten: Sie sind heute im Unterschied zu früher hoch verschuldet, diese Verschuldung hat prozentual stärker zugenommen als die Anhäufung von Vermögen bei den Reichen.

Die wichtigste Verteilungsfrage stellt sich heute also nicht zwischen Mittel- und Oberklasse, sondern zwischen Mittelschicht und den sozial schwächsten Milieus. Ein heikles Thema – gerade auch für Linke aus den bürgerlichen Schichten.

Mythos III: Die Familien zerbrechen, Paare bleiben kinderlos, immer mehr Menschen vereinsamen.

Es stimmt zwar, dass die Scheidungsrate weiter steigt, dass viele Leute kinderlos bleiben und der Anteil der Single-Haushalte zunimmt. Dass muss jedoch nicht automatisch mehr Einsamkeit bedeuten. Der Sozialforscher Hans Bertram hat nachgewiesen, dass Familienbindungen erstaunlich lebendig sind: Viele Kinder halten auch im Erwachsenenalter noch engen Kontakt zu ihren Eltern, selbst wenn sie schon lange nicht mehr an deren Wohnort leben.

Und was die Befindlichkeit der Singles angeht, gibt es einen interessanten Widerspruch: Sollen Singles über den Tag verteilt ihre Momente des Wohlbefindens angeben, schneiden sie genausogut ab wie Leute in Paarbeziehungen. Nur wenn sie eine Selbsteinschätzung über ihre allgemeine Lebenslage abgeben sollen, dann bezeichnen sich Singles weniger oft als „glücklich“ wie Gebundene. Zufriedenheit hat also etwas mit dem Gefühl zu tun, gängigen Wertemustern zu genügen oder nicht – und deshalb wäre es sicher gut, wenn in Zukunft nicht nur die heterosexuelle Paarbeziehung, sondern auch Langzeitfreundschaften, Hausgemeinschaften und sogar Hobbygruppen sozial höher bewertet werden als bisher.

Mythos IV: Der Anteil der Alten in der Gesellschaft steigt, und deswegen geht es uns immer schlechter.

Der Anteil der Alten nimmt zwar zu, aber vor allem deshalb, weil weniger Jüngere nachkommen, sich also die Proportionen verändern. Ältere Menschen sind aber nicht unglücklicher oder weniger zufrieden als Jüngere. Vielmehr erleben Ältere das „Wohlbefindensparadox“, so sagen Psychologen: Trotz der Einbußen an körperlicher Attraktivität, Belastbarkeit und Beweglichkeit nimmt die Genussfähigkeit zu, und die Lebensfreude bleibt somit erhalten. Schwierig wird es erst jenseits des 80. Lebensjahres, wenn etwa Gehprobleme oder Schwerhörigkeit die soziale Teilhabe beschränken.