In Zukunft ganz dynamisch

Dass Pflege neben der Medizin eine ganz eigene Welt ist, muss sich noch herumsprechen

VON ULRIKE WINKELMANN

„Frau Schäferjohann, welcher Tag ist heute?“ – „Mittwoch doch wohl, nicht?“ Na ja, stimmt fast. Aber die Schürze kann Annemarie Schäferjohann noch tadellos hinterm Rücken zubinden. Und wenn sie ihre Bluse nicht mehr richtig zukriegt, weil die Finger doch wackeln – der Kittel tut’s doch schon seit 50 Jahren. Beim Baden hilft der 92-Jährigen ihre 85-jährige Schwester, die eigentlich nichts Schweres mehr heben soll. Aber der Sohn mag seine Mutter nicht nackt anfassen. Darüber freilich redet keiner.

Nach 45 Minuten ist die Dame – Annemarie Schäferjohann nennt sie seither „das Mädchen“ – vom Medizinischen Dienst der Krankenkassen mit der Befragung fertig. Ergebnis: keine Pflegestufe. Die Pflegeversicherung stellt kein Geld dafür zur Verfügung, dass sich Frau Schäferjohann regelmäßig einen ambulanten Pflegedienst bestellen könnte. Zwar lässt Frau Schäferjohann schon mal die Herdflamme an, wenn sie unvollständig bekleidet zum Einkaufen huscht. Zwar riecht sie oft schon recht streng. Aber es wird niemand gebraucht, der ihr mehr als 90 Minuten täglich bei den „Aktivitäten des täglichen Lebens“, im Jargon heißt es: den ATLs, helfen müsste: Waschen, Toilette, Einkaufen, Essen, Umziehen, Putzen. Wird schon gehen.

Eine Million Besuche dieser Art macht der Medizinische Dienst jährlich. Ein Drittel aller Anträge lehnt er ab. Wer Eintritt in das Reich der Pflegeversicherung bekommt, wird einer der drei Pflegestufen zugeordnet (siehe Kasten) und bekommt Geld – entweder, um sich zu Hause helfen zu lassen, oder um die Kosten eines Heimaufenthalts zumindest teilweise abzudecken.

Die Pflegeversicherung ist nicht dazu da, alle Kosten für Pflege zu decken, sondern ist geprägt vom so genannten Teilkasko-Prinzip. Die Grünen oder auch Sozialministerin Ulla Schmidt (SPD) verwenden in diesem Zusammenhang gerne das Stichwort „keine Erbenschutzversicherung“: Gemeint ist, dass die Pflegeversicherung 1994 nicht geschaffen wurde, um privates Kapital zu schützen, sondern um Pflegebedürftige nicht automatisch in die Sozialhilfe rutschen zu lassen. Bei etwa 300.000 Menschen ist dies auch gelungen.

Doch der Anteil derer, die außer Pflegeversicherungsgeld auch Sozialhilfe brauchen, wächst wieder: In den Heimen liegt er bei weit über einem Drittel der Bewohner. Grund dafür ist vor allem, dass seit Einrichtung der Pflegeversicherung die Leistungen nicht gestiegen sind, die Kosten aber sehr wohl: Die Pflegeversicherung entwertet sich selbst. Trotzdem müssen die Pflegekassen schon seit 1999 eine halbe bis ganze Milliarde Euro im Jahr mehr ausgeben, als sie einnehmen.

Auch demografische und medizinische Entwicklungen werden an der Pflegeversicherung noch mächtig zerren. Allein bis 2010, so wird geschätzt, werden zu den jetzt 2 Millionen 400.000 weitere Pflegebedürftige hinzukommen. Bis 2030 rechnet etwa die Rürup-Kommission mit 3,1 Millionen Pflegebedürftigen. Vor allem aber hat die Bundesregierung bis 2005 ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts umzusetzen: Die Karlsruher Richter verlangten im April 2001, dass Erziehende besser gestellt werden als Kinderlose, schließlich trage zum Erhalt der Pflegeversicherung bei, wer Beitragszahler in die Welt setze und aufziehe.

Mehr als genug Gründe für eine Reform der Pflegeversicherung – und die steht nun an. Noch im Januar wird Sozialministerin Ulla Schmidt Eckpunkte eines Gesetzes vorlegen, das bis zum Sommer verabschiedet sein soll. Erste Details wurden zu Jahresende schon verraten: So soll von Nicht-Erziehenden ein Extrabeitrag von 2,50 Euro verlangt werden. Zwar haben sämtliche Experten geraten, die Vorgabe des Karlsruher Gerichts lieber über die Steuer umzusetzen. Doch von Finanzminister Hans Eichel (SPD) ist in diesem Jahr nichts, gar nichts zu erwarten.

Also muss Schmidt sich mit ihrer Strafgebühr unbeliebt machen – vor allem bei denen, deren Kinder schon aus dem Haus sind. „Der Zuschlag wird der Systematik des Kindergelds folgen“, sagt Schmidts Staatssekretärin Marion Caspers-Merk. Und weil länger befreit sei, wer mehrere Kinder hintereinander erziehe, werde ja sogar die Zahl der Kinder berücksichtigt. Natürlich hofft Rot-Grün, dass sich über 2,50 Euro letztlich niemand groß aufregen wird.

Immerhin 1,2 Milliarden Euro im Jahr sollen so aber zusätzlich eingenommen werden – und damit die „Dynamisierung“ der Pflegesätze, sprich ihre jährliche Anpassung an die steigenden Löhne, bezahlt werden. Über die Höhe dieser prozentualen Anhebung herrscht zwischen Rot und Grün noch Uneinigkeit: „Wir wollen die Dynamisierung so früh und hoch wie möglich“, sagt die grüne Pflegeexpertin Petra Selg – nicht erst 2007, sondern 2006, und nicht bloß 1,7 Prozent, sondern 2 Prozent Wachstum. Dies hätte natürlich zur Folge, dass der bisherige Beitragssatz – der nach Regierungswille vorläufig unter keinen Umständen steigen darf – von 1,7 Prozent vom Brutto nicht lange haltbar sein wird. Soll der nicht steigen, sagt Selg, „dann müssen wir uns eben schon 2010 und nicht erst 2015 über den Aufbau einer Demografie-Reserve unterhalten“.

Mit Sicherheit den größten Ärger wird es zunächst einmal mit der geplanten Absenkung der Pflegesätze für die Heimpflege in den Stufen I und II geben. Das formale Argument lautet, dadurch werde die ambulante Pflege aufgewertet oder „attraktiver gemacht“, aber natürlich handelt es sich schlichtweg um eine Leistungskürzung für alle, die neu ins Heim kommen. Bisherige Heimbewohner genießen Vertrauensschutz.

Etwa für die Pflegestufe I soll nach Schmidts Plänen der Satz von 1.023 auf 500 Euro mehr als halbiert werden – ein Schritt, der die Zahl der Sozialhilfe-Empfänger in den Heimen entgegen allen Reformzielen anheben würde. „Der Trend zur Heimpflege lässt sich nicht stoppen, indem man Geld entzieht“, erklärt die Bremer Pflegewissenschaftlerin Martina Hasseler. „Die Leute gehen nicht ins Heim, weil sie dort mehr Geld bekommen, als sie für die ambulante Pflege bekämen, sondern weil ihre Angehörigen sie nicht pflegen können.“

Die Pflegewissenschaft betrachtet die Reformdebatte mit Sorge. Zu sehr lastet auf Rot-Grün der Druck, Reformfähigkeit zu beweisen, zu kurzatmig und auf Finanznöte beschränkt könnten Gesetze ausfallen. „Pflege ist mehr als Waschen und Essenreichen“, sagt Hasseler. Die gesamte Pflegeversicherung leide darunter, dass sie einen zu engen Begriff von Pflegebedürftigkeit habe, der sich mit dem Ziel, „aktivierend“ zu pflegen, nicht vertrage.

Nun sollen mit dem Reformgesetz zwar auch neue Pflegeformen gefördert werden: „der Dritte Weg zwischen Heim- und Zu-Hause-Pflege“, wie Caspers-Merk sagt. Die Rede ist dabei von neuen Wohnformen und Tagesbetreuungen. Durch flexible Kurzzeitmodelle könnten auch die vielen pflegenden Töchter und Schwiegertöchter entlastet werden. Doch wie viel Geld es für Experimente und Testprojekte wirklich geben wird, lässt Caspers-Merk lieber offen.

Auch auf den Gedanken, dass Verwirrung, geistige Behinderung und psychische Erkrankungen künftig auch in der Pflegeversicherung zu berücksichtigen sind, ist die Regierung schon gekommen. Der rot-grüne Gesetzentwurf wird daher vorsehen, dass Demente eine halbe Stunde täglich an Pflegebedarf zuerkannt bekommen. Dadurch würden nach Berechnungen des Ministeriums 100.000 Menschen in die Pflegestufe I aufgenommen, 60.000 Menschen würden von der Pflegestufe I in die Pflegestufe II rutschen.

Das reicht nicht, sagen die Pflege-Berufsverbände. Sie gehen davon aus, dass derzeit rund 1 Million Demenzerkrankte auf Leistungen aus der Pflegeversicherung warten. Doch diese Zahl ist ohnehin nur mit spitzen Fingern anzufassen: Wie die Debatte um eine Pflegereform steht auch die Datenerfassung in der Pflege noch ganz am Anfang. Es existieren keine haltbaren Daten darüber, welche Krankheiten und Verfallserscheinungen zu einem medizinisch und pflegerisch begründeten Anstieg der Kosten führen werden. Der stark gestiegene Anteil der Heimbewohner im Wachkoma beispielsweise kann einerseits damit begründet werden, dass halt alle alten Menschen, die sich noch halbwegs rühren, inzwischen ambulant versorgt werden – andererseits aber auch damit, dass immer mehr Wachkoma-Patienten immer länger leben.

„Niemand weiß, ob mit zunehmendem Alter auch die Pflegebedürftigkeit steigt“, sagt Sabine Bartholomeyczik, Vorsitzende des Dachverbands Pflegewissenschaften. Andere Experten erklären jedoch, dass zumindest bei der Demenz ein Zusammenhang zwischen Hochaltrigkeit und Altersverwirrtheit bestehe: Und je mehr 80-, 90- und 100-Jährige es gibt, desto mehr Verwirrte werden zu pflegen sein.

Einig sind sich die Pflegeexperten jedoch in einem: Wer Pflege braucht, wie man Pflegebedarf definiert, und wie die Pflege schließlich auszusehen hat, das darf man nicht dem Satt-und-sauber-Blick des Medizinischen Dienstes überlassen. Dass Pflegebedürftigkeit etwas anderes als Krankheit ist, dass nicht die Ärzte, sondern Pflegefachleute dafür zuständig sind, dass Pflege neben der Medizin eine ganz eigene Welt ist, muss sich noch herumsprechen. Der Blick der Gesellschaft auf die Pflege wird erst noch geöffnet werden müssen.