„Alles illegal. Komplette Anarchie“

INTERVIEW DOROTHEA HAHN

taz: Saddam Hussein gilt in der westlichen Welt gegenwärtig vor allem als Monstrum. Sie aber möchten ihn verteidigen?

Jacques Vergès: Zunächst einmal bin ich der Anwalt von Tarik Asis (der frühere Außenminister des Irak, d. Red). Ich kenne ihn persönlich und ich habe viel Sympathie für ihn. Für seine Verteidigung habe ich einen Auftrag. Indem ich Tarik Asis verteidige, verteidige ich ein bisschen auch alle anderen. Ich wäre auch bereit, Saddam Hussein zu verteidigen.

Was interessiert Sie an dem Fall?

Eine Verurteilung muss eine luzide Entscheidung sein, damit sie einen exemplarischen und einen pädagogischen Wert hat. Die Taten und der Mensch müssen in ihren Kontext gestellt werden. Hier aber – immer vorausgesetzt, dass die Taten wahr sind – finden wir einen Kontext, in dem der Westen schuldig ist.

Wie beschreiben Sie den Kontext für Saddam Husseins Taten?

Man wirft Herrn Saddam Hussein und seiner Regierung Taten aus einer Epoche vor, als sie Freunde und Alliierte der westlichen Mächte waren. Im März 1988 zum Beispiel haben die USA im Weltsicherheitsrat ihr Veto gegen eine Resolution eingelegt, die die Verwendung von chemischen Waffen im Irak verurteilte. Im September desselben Jahres hat das amerikanische Handelsdepartement den Verkauf von Toxinen für biologische Waffen an den Irak genehmigt. Entweder die Vorwürfe stimmen. Oder sie sind eine zusätzliche Lüge.

Lassen Sie uns davon ausgehen, dass die Vorwürfe gegen Saddam Hussein stimmen.

Wenn mein Nachbar seine Frau töten will und mich um ein Messer bittet und ich es ihm gebe, bin ich sein Komplize. Vielleicht sogar sein Anstifter. Denn der Krieg gegen den Iran entsprach dem Wunsch des Westens, den Mullahs den Weg zu versperren.

Sie wollen also einen Prozess über die Verantwortung des Westens am Regime von Saddam Hussein?

Nein. Ich versuche, die Dinge in ihren Gesamtkontext zu stellen. Wenn man das Problem einzig darauf reduzieren würde, dass die Iraker diese oder jene Waffen gegen diese oder jene Bevölkerungen eingesetzt haben, hätte man den Gesamtkontext nicht. Und wenn man – vorausgesetzt, die Vorwürfe bewahrheiten sich – dann nur die Iraker verurteilt, hat man die Menschheit nicht von diesem Problem geheilt.

Es geht um Genozid und andere Gewalttaten.

Als die Toxine an den Irak verkauft wurden, hatte es bereits das Bombardement gegen ein kurdisches Dorf gegeben.

Das ändert nichts an den Vorwürfen.

Nein. Aber der Prozess muss im Gesamtzusammenhang gemacht werden. Damit man ihn versteht. Es wäre nicht verständlich, wenn in Nürnberg nur die Chefs der Konzentrationslager verurteilt worden wären, ohne über die NS-Führer zu richten.

Ist Nürnberg wirklich vergleichbar?

In Nürnberg haben die vier alliierten Mächte den Nazis Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschheit während des Krieges vorgeworfen. Die Kriegsverbrechen haben im Krieg stattgefunden und die Verbrechen gegen die Menschheit – insbesondere die Vernichtungslager, die Schoah, und die Massaker an den Slawen – sind nach der Kriegserklärung geschehen.

Mit der Judenverfolgung begann das NS-Regime aber schon lange vor dem Zweiten Weltkrieg.

Die „Endlösung“ ist 1942 beschlossen worden. Das Lager Auschwitz ist nach Kriegsbeginn eingerichtet worden. Die Massaker an den Russen sind nach 1941 begangen worden. In Nürnberg hat man es vermieden, von dem deutsch-sowjetischen Pakt zu reden und von dem Münchner Abkommen. In Nürnberg haben die Alliierten seit 1942 ihre Anklageakte vorbereitet. Beim Irak aber heißt es urplötzlich: Man wird ganz schnell einen Prozess machen und es gibt alle möglichen Anklagen vonseiten der Politiker. Aber es existiert nicht einmal eine Anklageakte.

Der US-Präsident weiß schon, dass er für die Todesstrafe ist.

Er sagt, der Gefangene ist schuldig. Und verdient den Tod. Aber es gibt keine Anklage. Das ist schon skandalös.

Für Sie ist alles illegal?

Alles illegal. Das ist die komplette Anarchie.

Wo könnte ein Prozess gegen Saddam Hussein stattfinden?

Taten, die im Irak begangen wurden, fallen in die territoriale Kompetenz des Irak. Aber heute gibt es keinen Irak. Es gibt keine Verfassung. Es gibt keine freien Wahlen. Es gibt keine glaubwürdige Justiz, die von einer glaubwürdigen Regierung nominiert worden wäre.

Es gibt provisorische Behörden.

Die von den Besatzern nominiert worden sind. Und ein provisorisches Komitee, dessen Mitglieder in die Zelle von Saddam Hussein spazieren, um sich mit ihm zu streiten. Wir befinden uns hier im Nullzustand des Rechts.

Was sagen Sie über die Umstände der Gefangennahme von Saddam Hussein?

Das ist sehr, sehr obskur. Ich habe den Eindruck, dass man Leute verhaftet hat, ohne zu wissen, was man mit ihnen tun wird. So wie man den Krieg geführt hat, ohne zu wissen, was man tun würde, wenn der Krieg vorbei ist.

Wie bereiten Sie Ihre Verteidigung vor?

Wir sind eine Gruppe internationaler Anwälte mit einem algerischen Anwalt und einer senegalesischen Anwältin. Außerdem arbeite ich mit einem Schweizer Anwaltsbüro zusammen. Unmittelbar werden wir für die Einhaltung der Genfer Konventionen sorgen. Gefangene haben ein Recht auf einen Anwalt und auf einen Arzt. Ich werde deswegen das Internationale Komitee des Roten Kreuzes einschalten. Diese Leute werden an einem geheimen Ort festgehalten. Man stellt sie aus. Man bedroht sie.

Sie haben unter anderem den NS-Verbrecher Barbie verteidigt. Und waren Anwalt von Terroristenchef Carlos. Gibt es Parallelen zwischen Ihren Mandanten?

Barbie war in Frankreich wegen Taten verfolgt, die er dort begangen hat. Bei Carlos sehe ich auch keine Parallele. Man kann nicht alles vergleichen.

Was empfinden Sie gegenüber den Opfern von Saddam Hussein?

Ich habe Mitgefühl. Aber ich verstehe Ihre Frage nicht. Ein Anwalt ist nicht dazu da, Mutter Teresa zu verteidigen. Sondern Leute, die verfolgt werden. Was würden Sie über einen Arzt sagen, der es ablehnt, Sie zu behandeln, weil sie Krebs haben oder Aids?