Auge in Auge mit der Realität

Die Poesie ist niemandem etwas schuldig: Ralph Dutli gelingt es in seiner psychologisch einfühlsamen und nie aufdringlichen Ossip-Mandelstam-Biografie, hinter der Figur des Asketen und Literaturbesessenen auch den lebensfrohen, sinnlichen, witzigen Mandelstam zum Vorschein zu bringen

VON MARION LÜHE

Anlässlich des Revolutionsfeiertags am 7. November 1938 erhielten die Gefangenen des Wladiwostoker Besserungs- und Arbeitslagers die Erlaubnis, auf einem Fetzen Packpapier einen Gruß nach Hause zu schreiben. „Bin außerordentlich erschöpft. Abgemagert, fast nicht wiederzuerkennen. Aber Kleider zu schicken, Essen und Geld – weiß nicht, ob es Sinn hat. Versucht es trotzdem. Ich friere sehr ohne Kleider“, schrieb Ossip Mandelstam an seinen Bruder nach Moskau. Zwei Wochen später starb der Schriftsteller, der einer Legende zufolge seinen Mithäftlingen am Lagerfeuer Petrarca-Sonette rezitiert haben soll, ausgezehrt und in geistiger Verwirrung. Er wurde in einem Massengrab verscharrt.

Schon in frühen Gedichten Mandelstams finden sich dunkle Ahnungen und Prophezeiungen eines gewaltsamen, anonymen Todes. Angesichts der Verfolgungen und ständigen Demütigungen, denen sich dieser Vertreter eines „extremen bourgeoisen Individualismus“ (so die 1932 erschienene sowjetische Literatur-Enzyklopädie) seit den Zwanzigerjahren ausgesetzt sah, vermag das kaum zu überraschen. Wie ein Muster durchziehen Flucht und Wanderschaft, Obdachlosigkeit und Entbehrung das Leben dieses „Dichter-Nomaden“. Wollte man seine Lebenswege (im wörtlichen Sinne) auf einer Landkarte nachzeichnen, es ergäbe ein dichtes Netz sich überschneidender Linien. Schon während seiner Petersburger Kindheit und Jugend war der 1891 geborene Ossip – russisch für Joseph – mit seinen Eltern, sehr um Assimilation und gesellschaftlichen Aufstieg bemühten Juden, ständig umgezogen. Später waren es zunächst Studieninteressen und innere Unruhe, dann materielle Not und politische Verfolgung, die ihn von Paris bis Heidelberg, von der Krim bis nach Armenien, vom Kaukasus bis in den Ural und schließlich nach Sibirien trieben.

In seiner Biografie folgt Ralph Dutli, Übersetzer und Herausgeber der ebenfalls im Ammann-Verlag erschienenen deutschsprachigen Mandelstam-Werkausgabe, den Spuren dieses rastlosen, unbehausten Dichters, den bis heute zahlreiche Mythen umranken. Sein Ziel ist es, hinter der Figur des asketischen „Märtyrers der Poesie“, der sich gegen Stalins totalitären Staat für die Dichtung aufopferte, auch den lebensfrohen, sinnlichen, witzigen Mandelstam zum Vorschein zu bringen. Gegen eine voyeuristische, chronologisch geordnete Anhäufung von Fakten, gegen jede „Anmaßung, ein Leben knacken zu wollen“, formuliert Dutli das Programm seiner Biografie als „Werkbiografie“.

Tatsächlich legt er eine außerordentliche Zurückhaltung an den Tag, etwa wenn es um die Liebesaffäre zwischen Ossip Mandelstam und Marina Zwetajewa, einer anderen Ikone der russischen Literatur, geht: „Wie weit die erotische Annäherung zwischen den beiden ging, braucht keinen zu interessieren. Wichtig ist, was bleibt, was diese Dichter einander schenkten: Gedichte.“

Wo Dutli diskret schweigt, lässt er die Gedichte umso ausführlicher sprechen. Die ersten poetischen Fingerübungen stammen aus der Zeit in Petersburg, wo Mandelstam sich 1911 dem Dichterzirkel um Anna Achmatowa und ihren Ehemann Nikolai Gumiljow anschloss. In deutlicher Abgrenzung zum russischen Symbolismus, dem sie Weltverneinung und schwulstiges Pathos vorwarfen, bekannten sich die Akmeisten – so der Name der Gruppe – zum Irdischen, Diesseitigen, Konkreten, zum „nüchternen Auge-in-Auge mit der Realität“. Die frühen Gedichte Mandelstams verarbeiten trotz letzter symbolistischer Nachklänge auf höchst sinnliche Weise die Phänomene des modernen städtischen Alltags: Kino und Sport, Wolkenkratzer und Tourismus, Hupen und Benzingeruch. Doch anders als die futuristische Avantgarde um Majakowski, gegen die Mandelstam heftig polemisierte, bettet er die Erscheinungen der Moderne ein in eine klassische Tradition, die bis in die Antike zurückreicht. Was seine frühe Dichtung auszeichnet, ist jenes unmittelbare Nebeneinander von Altem und Neuem, Erhabenem und Banalem, antiker Poesie und russischer Gegenwart.

Die revolutionären Ereignisse der Jahre 1917/18 versetzen Mandelstam zunächst wie viele andere in Aufbruchsstimmung, doch fühlt er sich vom „roten Terror“ Lenins und der zunehmenden Brutalisierung des Bürgerkriegs abgestoßen. Zudem lässt sich sein radikaler Individualismus kaum mit den Ansprüchen der neu sich formierenden kollektivistischen Ordnung, hinter der er schon früh die totalitären Züge erkennt, vereinbaren: „Während wir die Gesellschaft gestalten, vergessen wir oft, dass allem zuvor die Persönlichkeit gestaltet werden muss.“

Noch bevor seine gesellschaftliche Verfemung und politische Verfolgung einsetzen, begibt sich der Einzelgänger ab 1923 in ein „inneres Exil“. Gemeinsam mit seiner Frau Nadeschda, die er 1919 inmitten der Bürgerkriegswirren kennen gelernt hat, zieht der „Hellene unter barbarischem Himmel“ von Ort zu Ort, von Zimmer zu Zimmer, stetig auf der Suche nach einer Arbeit oder Bleibe – nicht aus einem Hang zur Askese, wie so manche Legende es will, sondern aus schierer Not. Doch für den vermeintlich Ewiggestrigen, der jede Zeitgenossenschaft verweigert, für politische Propaganda unbrauchbar und für Lohnarbeit nicht geschaffen ist, gibt es in dieser „kolossal organisierten Welt“ (so Nadeschda Mandelstam in ihren Memoiren „Jahrhundert der Wölfe“) keinen Platz. Nicht einmal für die Zuteilung einer neuen Hose reicht in den Augen der Behörden Ossip Mandelstams gesellschaftliches Verdienst aus.

Bei aller Überempfindlichkeit und Ängstlichkeit legt Mandelstam selbst in den Jahren des schlimmsten Terrors und der brutalen Verfolgung unliebsamer Schriftsteller eine erstaunliche Zivilcourage an den Tag. Immer wieder verfasst er Protestschreiben, wehrt er sich lautstark gegen falsche Anschuldigungen und ohrfeigt öffentlich den offiziellen Sowjetschriftsteller Alexei Tolstoi. Zum Verhängnis gereicht ihm sein berühmtes Anti-Stalin-Gedicht, in dem er den Diktator als „Seelenverderber“ und „Bauernschlächter“ tituliert. Im Mai 1934 wird der an Herzschwäche leidende, nach eigener Auskunft vor der Zeit gealterte 43-jährige Schriftsteller verhaftet und nach einem misslungenen Selbstmordversuch in den Ural abtransportiert.

Nach seiner Rückkehr aus der Verbannung folgt bald die Verurteilung zu fünf Jahren Arbeitslager. Das Kapitel über Mandelstams elendes Ende im sibirischen Gulag gehört zu den bewegendsten Passagen dieses Buches, das durch psychologisch einfühlsame, jedoch niemals aufdringliche Schilderungen besticht. Wenn Dutli sich der Person des Schriftstellers behutsam über das Werk nähert, so weist seine Biografie doch stets über dessen individuelles Schicksal hinaus: Nicht Mandelstam allein fiel der stalinistischen Diktatur zum Opfer, sondern die Literatur als Ganzes.

„Die arme Poesie weicht vor der Vielzahl der auf sie gerichteten Revolvermündungen strikter Forderungen. Wie muss Poesie sein? Vielleicht muss sie überhaupt nicht, vielleicht ist sie niemandem etwas schuldig.“ Seine radikale Absage an jede Vereinnahmung der Literatur hat Ossip Mandelstam mit dem Leben bezahlt.

Ralph Dutli: „Mandelstam. MeineZeit, mein Tier. Eine Biographie“. Ammann Verlag, Zürich 2003. 640 Seiten, 28,90 €