Scheibengericht: Neue Platten, kurz besprochen
von Christoph Wagner

Gebastelt

Hans Joachim Irmler: „Lifelike“. Staubgold 44 (www.staubgold.com)

Die Krautrockgruppe Faust war einst eine Band, die am besten im Studio funkionierte. Klänge wurden als musikalisches Rohmaterial behandelt, das es zu bearbeiten und zu verfremden galt. Das machte Faust Anfang der Siebziger zu echten Avantgardisten des Pop, weil sie eine Arbeitsweise vorwegnahmen, die heute, im Zeitalter digitaler Musikproduktionen, gang und gäbe ist.

Hans Joachim Irmler ist der Keyboarder von Faust und seit der Neuformierung der Band in den Neunzigern einer der beiden Motoren des Projekts. Seine Soloplatte zeigt ihn in seinem Element: als Klangbastler mit breitem Ästhetikbegriff, den er von den Futuristen vom Anfang des letzten Jahrhunderts entlehnt zu haben scheint. Sie feierten den Lärm des Industriezeitalters als Symphonie der Moderne. Wie Luigi Russolo betrachtet auch Irmler Geräusche als natürlichen Bestandteil der Welt der Musik, der seine Fantasie stärker beflügelt als die Töne des herkömmlichen Instrumentariums.

So bildet das Rascheln, Knistern, Krachen, Surren, Knacken und Pulsieren den Urschleim seines Klanguniversums, aus dem er rhythmische Strukturen und klangliche Muster gewinnt, sie mit Alltagslärm, Stimmeinblendungen und wehenden Orgelsounds anreichert, um das Ganze zu einem Klangstrom zusammenzugießen, der wie eine radikalisierte Version von Ambient klingt, jedoch nicht einlullt, sondern verstört und irritiert.

Unterwegs

Embryo: „Bremen 1971“. Garden of Delights CD084 Embryo: „Live Recordings 2002 & 2003“. Schneeball/Indigo 24462-5 (www.embryo.de)

Sie bestehen beinahe so lange wie die Rolling Stones. Embryo ist eine der ältesten Rockbands, die die deutsche Szene hervorgebracht hat. 2004 feiern sie ihr 35-jähriges Jubiläum. Seit 1969 ist die Münchner Formation unentwegt unterwegs, produziert alle paar Jahre ein neues Album und setzt sich kontinuierlich neuen Einflüssen aus, auf langen Reisen, die sie hauptsächlich durch den Orient unternehmen. Welche enorme musikalische Wegstrecke dabei zurückgelegt wurde, ist anhand zweier Neuerscheinungen zu ermessen, die die Band 1971 bei einem Auftritt in Bremen sowie bei einer Serie von Konzerten neusten Datums in Köln, München, Berlin und Spanien zeigen.

Bei der Gründung waren Embryo Jazzdissidenten, die sich von den neuen elektrischen Sounds des Rock angesprochen fühlten. Mit kraftvollen Rhythmen und überblasenen Flötentönen war ihr Rockjazz ganz auf der Höhe der Zeit. Das Saxofon heulte elektrisch verzerrt, der Bassist spielte sein Instrument als Sologitarre à la Jack Bruce. Mit der Zeit hat die Musik die Selbstbezogenheit der Woodstock-Ära abgestreift und sich nach vielen Richtungen geöffnet. Den Embryo-Mitgliedern wuchsen größere Ohren. Bald führten sie kein einstudiertes Repertoire mehr auf, sondern suchten den Austausch mit Musikern aus anderen Kulturen, ob in Europa, Afrika oder Asien. Dafür muss man vor allem eines können: zuhören.

Kontrolliert

Milton Babbitt: „Occasional Variations“. Tzadik/Sunny Moon TZ 7088

Als Gegenpol von John Cage (1912–1992), der den Zufall zum Kompositionsprinzip erhob, verkörpert Milton Babbitt (Jahrgang 1916) den ultrarationalen Strang der amerikanischen Avantgarde-Tradition. Babbitt ging es weder um anarchische Freiheit noch um Ausdruckskraft, sondern um Logik und Kontrolle. Wie ein moderner Architekt suchte er ästhetische Schönheit in vollkommen durchdachten (Klang-)Konstrukten. Als Kopfmensch war Babbitt ein Doppeltalent, er erwarb sowohl in Mathematik als auch in Komposition akademische Grade. Kein Wunder, dass die Zwölftonmusik von Arnold Schönberg, den er in den Dreißigerjahren einmal kurz getroffen hatte, besondere Faszination auf ihn ausübte. In ihrer sensiblen Feinstimmung und aufbrausenden Vehemenz offenbaren zwei seiner Streichquartette den Einfluss der 2. Wiener Schule. Gleichzeitig interessierte sich Babbitt für die neuen Möglichkeiten des Synthesizers, wobei ihn weniger die schier unbegrenzte Vielfalt an Klängen anzog als die übermenschliche Präzision der Klangmaschine.

1957 begann Babbitt mit dem Urmodell eines Synthesizers zu experimentieren, der einen ganzen Raum ausfüllte und mit gelochten Druckkarten gefüttert werden musste. Erst vier Jahre später war das erste Stück fertig. Ein weiteres Synthesizer-Stück, „Occassional Variations“, bei dem elektronische Klangpartikel wie Moleküle bei einer Kettenreaktion durcheinander wirbeln, entstand zwischen 1968 und 1971. Dagegen erinnert die „Composition for Guitar“ in ihrem nervösen Flackern an eine Flamme im Wind. Ist es die Flackel des Fortschritts, die hier brennt?

Unauthentisch

Maya Homburger: „Violin J.S. Bach / Barry Guy“. Maya Recordings MCD0301 (www.maya-recordings.com) John Potter / The Dowland Project: „Care-charming sleep“. ECM New Series 476052-2 (www.ecmrecords.com)

Die Bewegung der frühen Musik hat mit der Fetischisierung des „authentischen“ Klangs ein Dogma hervorgebracht, das auf die Dauer einengend wirken musste. Seit einiger Zeit begehren Musiker dagegen auf, die sich nicht in das Korsett einer historischen Aufführungspraxis zwängen lassen wollen. Sie spielen frühe Musik auf modernen Instrumenten und moderne Musik auf historischem Instrumentarium. Die Schweizer Barockviolinistin Maya Homburger und der englische Bassist und Komponist Barry Guy sind Musiker, die sich seit längerem zwischen den beiden Welten tummeln. Jetzt hat Homburger sich das knifflige Solowerk für Violine von Johann Sebastian Bach vorgenommen und dabei auf meisterhafte Weise den verschlungenen Wegen des imaginären Kontrapunkts nachgespürt. Die Bach’sche Polyphonie lässt den Ton ihrer Barockvioline aufleuchten, die von Antonio dalla Costa im italienischen Treviso um 1740 gebaut wurde.

Eine ähnliche Absicht liegt auch Barry Guy’s Komposition „Inachis“ zugrunde, in der er vom leisen Filigranspiel bis zu wuchtigen Akkordfolgen das ganze dynamische Spektrum des Barockinstruments auslotet.

Maya Homburger und Barry Guy bilden den instrumentalen Kern des Dowland Projects, das John Potter vom renommierten Hilliard Ensemble ins Leben gerufen hat, um Lieder und Madrigale der Renaissance in neues Licht zu tauchen. Der Verfemdungseffekt kommt jedoch vor allem von Jazzsaxofonist John Surman. Surman improvisiert, aber nicht so frei wie Jan Garbarek bei dessen Kollaboration mit dem Hilliard Ensemble. Vielmehr legt er seine Notenstimme in freizügiger Manier aus, indem er Variationen hinzufügt und damit eine improvisatorische Praxis wiederbelebt, die in der Renaissance allgemein üblich war. Manchmal näselt sein Sopransaxofon wie eine Holztrompete im 16. Jahrhundert, ein andermal quäkt seine Klarinette wie ein Dudelsack. Es könnte sein, dass diese offene Art der Interpretation dem Geist der Originale näher kommt als sklavische Notentreue. Authentisch – das kann vieles bedeuten.

Gepflegt

Sexteto Mayor: „Passion Du Tango“ Network 25.192 (2 CDs) (www.networkmedien.de)

Sie sind das Melos Quartett des klassischen Tangos. Sechs ältere Herren im schwarzen Anzug mit Fliege bilden das Sexteto Mayor aus Buenos Aires. Aus zwei Violinen, zwei Bandoneons und einem Stehbass besteht ihre Besetzung, plus ein Keyboard, als unvermeidliches Zugeständnis an die Moderne. Die Gruppe hat sich zur Unzeit zusammengefunden, in den Siebzigerjahren, als die Tangomusik in einer ernsthaften Krise steckte. Von den 600 Tangokapellen des Booms der Vierziger waren nur noch eine Hand voll übrig. Das Sexteto Mayor war eine davon.

Die Combo hat vielleicht deshalb überlebt, weil sie es schaffte, zu sechst wie ein großes Tangoorchester zu klingen. Zudem haben sie auch dann noch zäh an den alten Tanzformen und Spielweisen festgehalten, als Astor Piazzolla schon mit dem Tango Nuevo experimentierte. Das verhalf ihnen zum Ruf, ein Bollwerk der Tradition zu sein. Der gepflegte Ton, die dramatische Geste und die einfühlsame, artistische Präsentation wurden zu ihrem Markenzeichen. Wenn das Sexteto Mayor in seiner konzertanten Weise zum Tanz aufspielt, hält es niemand mehr auf den Stühlen.

Hausgemacht

Jibaro Hasta el Hueso: „Montain Music of Puerto Rico by Ecos de Borinquen“. Smithsonian Folkways Recordings/Sunny Moon SFW Cd 40506

Was für Kuba der Son, ist für Puerto Rico der Jibaro: eine entspannte geschmeidige Saitenmusik, zu der man tanzt. Wie sein Verwandter aus Kuba hat auch der Jibaro-Stil in den letzten zwei Jahrzehnten ein erstaunliches Revival erlebt, das jedoch in Puerto Rico eher hausgemacht war und nicht nur von Modewellen im Westen bestimmt.

Ein Mitglied der Gruppe Ecos de Borinquen erzählt, dass er früher für das Spielen des Jibaro von seinen Altersgenossen verspottet wurde, weil dieser Volksstil vom Land als hinterwäldlerisch und veraltet galt. Heute lacht niemand mehr. Selbst von der Jugend wird der Jibaro inzwischen akzeptiert. Ein typisches Jibaro-Ensemble besteht aus einem trovador, wie der Sänger und Textdichter genannt wird, zwei Musikern, die kleine cuatro-Gitarren spielen, einem Bassgitarristen und einem Perkussionisten, der auf einer Ratsche komplexe Rhythmen reibt. Manchmal gehört noch eine Sängerin dazu.

In dieser Besetzung sorgt Miguel Santiago Diaz mit seinem Ensemble seit Jahren für die musikalische Umrahmung von Hochzeiten, Geburtstagen und Tauffesten, wo der Sänger seine improvisatorischen Fähigkeiten dadurch unter Beweis stellt, dass er Verse passend zum Anlass aus dem Augenblick heraus erfindet. Das ist der Gütetest, der aus einem einfachen interprete einen anerkannten trovador macht.