Ozzy und Die Ärzte

Eine wehrhafte Demonstration gegen die Diktatur jugendlicher Selbstgefälligkeit

Und nun, dreißig Jahre später, war die erbarmungswürdige Gestalt reinster Naturalismus

Wenn der Abspann der Fernsehserie „Mein Leben und ich“ läuft, ist man keineswegs verpflichtet, die symbolhaltige Konstellation persönlich zu nehmen, aber es kommt gelegentlich vor. Außer mir lümmelten ein Neun- und ein Zehnjähriger auf dem gilben Kurzhaarflokati. Mit größtem Vergnügen hatten wir Wolke Hegenbarths Bemühungen verfolgt, ihre notorisch peinlichen Eltern vor weiteren Peinlichkeiten zu bewahren. Bevor nun der Fernseher in den Stand-by-Modus transformiert wurde, knipsten die beiden den Videotext an und lasen die Zeile: „Ozzy: Herzstillstand! Seite 267“.

„Mach mal 267!“, fordert der Zehnjährige. Sie überfliegen die Meldung. Ozzy Osbourne habe nach seinem Unfall zwei Minuten lang nicht geatmet, steht da, das habe seine Frau dem Daily Mirror berichtet. Woher sie denn Ozzy Osbourne kennen?, frage ich. Über den werde geredet, sagt der Neunjährige. Ob sie denn von Black Sabbath schon mal gehört oder „Die Osbournes“ gesehen hätten? Nö. Aber Ozzy Osbourne sei neulich bei „Wetten, dass …?“ dabei gewesen: „Sah irgendwie komisch aus.“ Das glaubte ich ohne weiteres. Mir war der Videoclip zu seinem Song „Dreamer“ wie eine mustergültige, brutal-zynische Parodie auf das Wrack eines Heavy-Metal-Stars erschienen. Andersherum: Hätte jemand in den Siebzigern diese Bilder als die ultimativ bösartigste Zukunftsvision von einem der Härtesten der Hardrocker hergestellt, hätte ihr niemand auch nur den Hauch einer Chance auf eine späteren Verwirklichung zugebilligt. Und nun, dreißig Jahre später, war die erbarmungswürdige Gestalt reinster Naturalismus.

Einige Minuten später haben sich die beiden ins Kinderzimmer zurückgezogen und „Lärm“, das neue Album der Ärzte, in den CD-Spieler geschoben. Man kann es eindeutig identifizieren, ist ja laut genug. Nicht schlecht, und gottlob!, nicht Pur oder andere Duseleien. Aber laut.

Jetzt ist beherztes Handeln gefordert, eine Gegenattacke und akustische Antwort, ein irgendwie retrogrades, umso krachenderes Echo. Denen werde ich’s zeigen! Was ich zu bieten habe, wird eine symptomatische und stilbildende Demonstration der Wehrhaftigkeit sein; ein adultes „So nicht!“ im Gewand juvenilen Trotzes gegen die Diktatur der jugendlicher Selbstgefälligkeit.

Irgendwo muss „Paranoid“ von Black Sabbath sein. Die werden bald wissen, wer Ozzy Osbourne ist! Ozzy wird jetzt aufgelegt. Jawohl, „aufgelegt“: Ich besitze nämlich „Paranoid“ als Schallplatte. Nicht etwa, weil vor dreißig oder was Jahren Black Sabbath zu meinen Favoriten gezählt hätte, sondern weil ich die Platte vor kurzem in der Bücherei für 50 Cent erstanden habe. Das Gerümpel, den entrümpelungswillige Bürger herschenken und hier abladen, verkauft die Bücherei, um ein bisschen Kleingeld in die Kasse zu kriegen. Und formt auf diese Weise zugleich einen beispielhaft ressourcenschonenden Distributionsweg in nuce, der sich so gar nicht wie der gnadenlos profitorientierte Kapitalismus anfühlt. Menschen, die ein Leben im Überfluss führen, speisen Dinge aufs Neue in den Verwertungskreislauf ein, andere erwerben sie für eine Summe, nicht mehr als eine Schutzgebühr, die kaum der Rede wert ist.

„Der eine hat’s, der andere braucht’s, das nenn ich Sozialismus“, sagt Ivan Desny in „Halbe Halbe“, einem leider völlig in der Vergessenheit versunkenen Film von Uwe Brandner, der, so weit ich weiß, noch nie im TV gezeigt wurde.

Wie sind wir jetzt von Ozzy Osbourne zu Karl Marx gelangt? Himmelfahrtskommando zurück: Außer der Black-Sabbath-Platte hatte ich aus dem Pappkarton im Foyer der Lesehalle „Stranger in the Night“ gefischt, ein Live-Doppelalbum von U.F.O., und eine Status-Quo-Platte von 1974, die „Quo“ heißt. Bis zu diesem Abend war von der Büchereiausbeute nichts an mein Ohr gedrungen, weil ich Rock dieser Provenienz zu 98 Prozent unerträglich finde. Aber jetzt war es so weit, jetzt würden die Burschen Ozzy Osbourne kennen lernen. Und mich!

Ich greife zu und stelle fest: Die Platte heißt gar nicht „Paranoid“, sondern schlicht „Black Sabbath“. Das deutet darauf hin, dass es ihre erste ist. Als Veröffentlichungsdatum steht 1976 auf dem Cover. Da gab es die Band doch schon seit Ewigkeiten? Ich habe nicht die geringste Ahnung, ob es die erste, zweite oder soundsovielte Platte von Black Sabbath ist. Und ich werde den Teufel tun, im Internet eine Fanpage aufzurufen, um das herauszufinden. Wenigstens ist Ozzy Osbourne dabei. Es gilt: Regler nach rechts bis zum Anschlag! Intro!! Crescendo!!!

Nein … – die Geschichte nimmt eine scheinbar undramatische, aber um so heiklere Wendung: Bevor die Anlage ihren Betrieb aufnehmen kann, sind Lärm und „Geräusch“ – denn so lautet der Titel der Ärzte-CD – von nebenan verstummt. Nach einer angemessenen Schonfrist kontrolliere ich die Lage: Die Jungs schlafen tief.

In einem Anfall latenten Irrsinns lege ich statt Ozzy U.F.O. auf: „Doctor, Doctor“. Grauenvolle Mucke, und grässlicherweise ein Stück, das ich damals, als ich nicht viel älter war als zehn, wenn es im Radio gespielt wurde, ganz gern gehört habe.

DIETRICH ZUR NEDDEN