Grimmig und unsicher, unsicher und grimmig

Wer weiß schon vom anderen, warum er was tut? Über nonverbale Kommunikation und all die krausen Gedanken, die sie notwendig begleiten

Es ist Mittwoch, vielleicht auch Donnerstag. Ein braunes Hutzelweibchen mit buntem Kopftuch leert hinter einem Gebüsch am Rande der kleinen Grünanlage aus einer Plastiktüte einfach irgendeine Scheiße auf den Rasen. Sie dreht sich halb zu mir hin und ich blicke sie grimmig an. Sorgfältig schüttelt sie den letzten Rest aus der Tüte und blickt erst unsicher zurück, dann grimmig. Ich wiederum wechsele von grimmig zu unsicher. Daraufhin wiederum sie zu unsicher und ich zu grimmig – wir wissen im Grunde beide nicht so recht, wie wir gucken sollen.

Könnte ja zum Beispiel sein, dass man da, wo sie herkommt, seine ganze Scheiße einfach irgendwohin schüttet, ohne dass man dafür grimmig angesehen wird. Weil dort nämlich der gesellschaftliche Konsens sagt, „schüttet eure ganze Scheiße einfach irgendwohin – das ist dann schon okay“. Die alte Frau wird sich denken: „Der guckt mich nur grimmig an, weil er ein dummer und schlechter Mensch aus einem Land ohne Kultur ist. Was weiß der schon von meiner Kultur – was weiß der zum Beispiel von der schwarzen Wutz? Dieser blauäugige Schlächter!“

Da kann sie ja praktisch nur grimmig schauen, und ich, der ihre Gedanken ahnt, werde unsicher. Gewiss denkt sie sich nichts Schlechtes dabei, als sie jetzt die Straße überquert, dann mit zwei weiteren Plastiktüten zurückkommt und erneut ihre ganze Scheiße einfach in die Rabatten kippt.

Das ist ja auch nicht leicht mit diesen fremden Sitten – ich kann davon ein Lied singen: Ich bin mal im Urlaub, nicht zuletzt, weil ich meinte, mich zu erinnern, dass da irgendwas Komisches mit den Bekleidungsvorschriften war, nackig in einer Moschee rumgerannt und habe dort singend Schweinswürstchen über einer Kerze gebraten. Die Leute dort haben damals dann auch recht grimmig geguckt und recht unsicher, wobei „grimmig und unsicher“ noch überhaupt keine Ausdrücke sind. Passender wäre vielleicht „sehr, sehr grimmig und sehr, sehr unsicher“. Dabei war ich nun wirklich guten Willens, aber man kann da die verrücktesten Überraschungen erleben – man steckt echt nicht drin.

Als ich Revue passieren lasse, wie ich damals, nur wegen dieses blöden Missverständnisses, vor dem rasenden Lynch-Mob durch die engen Gassen flüchten musste, gucke ich grimmig. Die alte Frau guckt unsicher: Weiß sie am Ende doch, dass es hierzulande als wenig opportun gilt, seine ganze Scheiße einfach irgendwohin zu schütten? Oder weiß sie es nicht, weil sie genau bei diesem Thema in der Integrationsschulung gefehlt hat? Bei den Buchstaben K, L und M hat sie sich schon kaum noch auf ihrem Stuhl halten können, aber sie hat trotzdem die Zähne zusammengebissen: Alles über K wie „Karneval“, L wie „Lesben-WG“ und M wie „Mischgemüse“ hat sie wie im Fieber in ihr kleines Oktavheftchen geschrieben. Zu Hause dann gepaukt bis zum Erbrechen, gelehrig, integrationswillig. Bei N wie „Niemals seine ganze Scheiße einfach irgendwohin schütten“ lag sie dann im Bett. So verpasste sie notwendigerweise natürlich auch noch die Buchstaben O wie „Ordnungswidrigkeit“ bis Z wie „Zeigefreudig“. Die arme Frau – genauso muss es gewesen sein! Mein Blick wird unsicher.

Die alte Frau blickt grimmig: Sie weiß genau, dass es in diesem Land nicht gerne gesehen wird, wenn man seine ganze Scheiße einfach irgendwohin schüttet, aber sie kann nicht anders – ihr Glauben zwingt sie dazu. Einmal, ein einziges Mal, hat sie ihren Kram in die Mülltonne geworfen und noch in derselben Nacht hat die schwarze Wutz sie in ihren Träumen heimgesucht und ihr kalte Fanta über den Kopf gegossen.

Das war nicht schön – das muss wirklich kein zweites Mal sein: Entschlossen stapft die alte Frau davon. ULI HANNEMANN