Somnambul durch die Nacht

Wozu irgendwo ankommen, wenn es im Zwischenreich am schönsten ist? In Sofia Coppolas neuem Film „Lost in Translation“ hat sich die Kamera in das Leuchten und das Pulsieren Tokios verliebt, und der Komödie wird ganz melancholisch ums Herz

VON CRISTINA NORD

Sofia Coppola macht nicht viele Worte. Ihre Sätze verebben, kaum hat sie zu reden begonnen, ihre Antworten bleiben vage, gleich was man sie fragt. Es ist ein sonniger Oktobertag in Wien, in zwei Tagen beginnt die Viennale, und „Lost in Translation“, Coppolas zweiter Spielfilm nach „The Virgin Suicides“, wird das Festival eröffnen. Die Einsilbigkeit der 32 Jahre alten Regisseurin rührt von demselbem Übel, das die Figuren ihres Films befallen hat: „Mein Jetlag ist zu groß für komplizierte Fragen.“

Charlotte (Scarlett Johansson) und Bob (Bill Murray), die Hauptfiguren von „Lost in Translation“, begegnen einander in einem Tokioter Hotel. Bob ist ein älterer Schauspieler; nach Japan reist er, weil er dort mit Whiskey-Werbung viel Geld verdient. Charlotte, gut 35 Jahre jünger, begleitet ihren Mann, einen Fotografen (Giovanni Ribisi). Der lässt sie seiner vielen Aufträge wegen allein im Hotel, sie wehrt sich erfolglos gegen den Ennui, indem sie strickt, raucht, aus dem Fenster schaut oder sich in der Kunst des Trockenblumensteckens versucht. Charlottes Zimmer schwebt im 30. oder 40. Stock, losgelöst von der Stadt. Die übertrifft jede Reizüberflutung, die der Großstadt des frühen 20. Jahrhunderts nachgesagt wurde. Fürchtete man damals, die Dächer könnten von den Häusern auf die Straße rutschen, erleben Bob und Charlotte, wie virtuelle Elefanten über die Fassade eines Hochhauses ziehen, Dinosaurier ihnen folgen und die Kids ihr Ego transzendieren, sobald sie sich an die Spielkonsolen der Virtual-Reality-Salons anschließen.

„Ich war schon so oft in Tokio“, sagt Coppola, „und noch immer bin ich überwältigt.“ Die Straßen sind voller Zeichen, Billboards, Displays, die Stadt ist ein digital erweiterter, hypermedialisierter Ort. Lance Acords Kamera kann sich daran nicht satt sehen. Sie ist so verliebt in die Lichter, die Screens und die Spiegelungen, dass etwas von deren Leuchten auf den Film übergeht. „Wir fuhren beide sehr darauf ab, wie Tokio aussieht, auf das Neonlicht in der Nacht.“ Coppola erklärt, wie sie diese Anziehung auf den Film zu übertragen versuchte, indem sie für die Außenaufnahmen möglichst wenig technischen Aufwand trieb: Sie arbeitete ohne Drehgenehmigungen, mit wenig künstlichem Licht und einer kleinen Crew, selten heuerte sie Statisten an, stattdessen wurden die Passanten gefilmt. Das Team sei dadurch sehr beweglich gewesen. Wenn es einer Location verwiesen wurde, suchte es sich eben eine andere, und wenn sich das Wetter gerade für eine Szene anbot, die nicht im Drehplan stand, wurde umdisponiert. Aufgrund einer solchen Improvisation kam zum Beispiel die Szene zustande, in der Charlotte auf einer belebten Kreuzung stehen bleibt, während die Passanten an ihr vorbeieilen. Als der Regen einsetzt, spannen sie synchron ihre Regenschirme auf wie knospende Blumen.

Charlotte und Bob können nicht schlafen und bewegen sich, als wären sie aus der Zeit gefallen: erschöpft am Tage, somnambul in der Nacht. Je weniger sie die japanische Umgebung in ihre Begriffe übersetzen können, umso mehr entgleiten ihnen die Vertrautheiten des eigenen Lebens. Wenn Bob mit seiner Frau telefoniert, reden sie über den Bordeauxton von Teppichfliesen. Das ist so sehr zum Lachen, wie es zum Weinen ist, denn es macht deutlich, dass Bob sein Leben mit einer Fremden teilt. Charlotte geht es nicht besser. „Mein eigener Mann ist mir so fremd“, sagt sie, als sie mit einer Freundin telefoniert und mit den Tränen kämpft. Die Freundin überhört die Bemerkung, als hätte sich eine Lücke in der transpazifischen Telefonleitung geöffnet. Die Übertragung, das Verstehen missglücken, und es ist klug von Coppola, dass sie die Entfremdung für die scheinbar vertraute kalifornische Welt genauso gelten lässt wie für Japan.

So entkräftet sie den möglichen Einwand, sie stelle die Eigenheiten der Japaner zu sehr aus, damit die Protagonisten auf ihre Kosten kommen. Dieser Eindruck entsteht eher dann, wenn man die deutsche Fassung sieht: Bill Murrays Synchronstimme verleiht der Figur eine an Überheblichkeit gekoppelte Griesgrämigkeit, die ihr im Original abgeht. Läuft der Zynismus in der englischen Fassung ins Leere, wirkt Bob in der deutschen Fassung fast feindselig. Einmal, als er ungebetenen Besuch von einer Prostituierten erhält, rückt deren Befehl „Lupf meine Stlümpfe“ zu nah an die Karikatur heran; im Original, in dem das Nuscheln stärker ist und die Tonspur mehr Hintergrundgeräusche zulässt, fehlen solche Eindeutigkeiten – jedenfalls für den, der kein native speaker ist und dessen Übersetzungsschwäche eine Unbestimmtheit erzeugt, wie sie in der Synchronfassung ausgeschlossen ist.

„Lost in Translation“ schickt die Figuren in ein Vakuum. An dessen Unterseite nistet die Verzweiflung, doch zugleich schafft es einen Freiraum. Darin lässt es sich staunen, als wäre man wieder Kind. Man weiß noch nicht, was die Dinge bedeuten, und hört deswegen auf, sie einzuordnen. In diesem Zwischenreich kann sich vieles entfalten: Charlie Brown (Fumihiro Hayashi), eines der japanischen Clubkids, singt „God Save the Queen“ von den Sex Pistols in einer Karaoke-Version, Bob „More than this“ von Roxy Music, Charlotte „Brass in the Pocket“ von den Pretenders. Punk und Pop: Die Codes und Zeichen wirbeln; später, wenn Bob in der TV-Show Matthew Minamis zu Gast ist, werden sie endgültig hysterisch. Charlotte trägt eine rosafarbene Perücke, Bob ein von innen nach außen gestülptes Camouflage-Shirt, nachts flanieren sie über die Hotelflure, als sei die Funktion dieser Gänge – der Passage von einem Ort zum anderen zu dienen – aufgehoben. Wozu irgendwo ankommen, wenn es im Zwischenreich viel schöner ist?

Charlottes und Bobs Staunen hat einiges mit dem zu tun, was die Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann einmal mit dem Begriff der „wilden Semiose“ beschrieb. Statt sich im Prozess der Bedeutungsbildung aufzulösen, drängt die Beschaffenheit der Zeichen in den Vordergrund. Sie bietet sich einem „langen, faszinierten Blick“ dar, mithin einer Art der Betrachtung, die nicht zum Sinn durchdringt, sondern sich an der Materialität der Zeichen erfreut. Damit wird ein Automatismus außer Kraft gesetzt. Denn solange die Zeichen nicht entziffert werden, wird auch deren Gestalt nicht zugunsten der Bedeutung unterdrückt. Implizit steckt darin so etwas wie ein Lesevorschlag fürs Kino: Wer mit dem langen, faszinierten Blick, mit dem Bob und Charlotte auf Tokio schauen, Filme ansieht, kann sich ihrer Farbigkeit, ihrem Licht und ihrem Pulsieren anheimgeben, und das ist viel aufregender, als immer schon zu wissen, worum es geht und was das zu bedeuten hat.

Dazu passt, dass „Lost in Translation“ eine vielgestaltige Landschaft der Gefühle schafft, wie man sie selten im Kino sieht. Über die langweilige Geschichte vom alten Mann und der jungen Frau weist der Film weit hinaus; was zwischen Bob und Charlotte besteht, ist etwas anderes als körperliche Anziehung, es ist etwas anderes als Freundschaft oder Liebe oder Vatersurrogat, „etwas zwischen all dem“, sagt Sofia Coppola: „was immer Sie sich vorstellen“. Auch hier gilt: Dass dieses Verhältnis undefiniert bleibt, lenkt den Blick doppelt auf seine spezifische Schönheit.

„Lost in Translation“ mischt den komödiantischen Seiten eine große Dosis Melancholie bei. Das Scheitern wohnt in allen Dingen – etwa in einem Laufband im Fitnessraum des Hotels. Bob trainiert, doch das Band steigert die Geschwindigkeit wie einst das Fließband in „Moderne Zeiten“. Seine Beine müssen einem unwahrscheinlichen Rhythmus verfallen, bevor ihm der Absprung gelingt. Das Missverständnis, das sich hier zwischen Mensch und Maschine auftut, ist grundlegend, es markiert den Riss, der zwischen dem Subjekt und dessen Umwelt sich öffnet. Lost in Translation: Das heißt mehr, als dass bei der Übertragung von der einen in die andere Sprache etwas verloren geht; es heißt auch, dass in der Kommunikation von Mensch und Welt etwas Grundlegendes misslingt. Verzweifeln jedoch muss man über diesen Fehler im Bau der Welt nicht, solange man darüber lacht.

Schon in ihrem Spielfilmdebüt, der Verfilmung des Romans „The Virgin Suicides“ von Jeffrey Eugenides (1999), ging es Coppola um ein unerklärliches Scheitern an der Welt: Die Lebendigkeit und die Jugend der Protagonistinnen, der fünf Schwestern der Lisbon-Familie, finden ein jähes Ende, als sich die Teenager das Leben nehmen. In der ersten Szene kaut Kirsten Dunst als Lux Lisbon ein Kaugummi. Sie lässt die rosafarbene Blase in einer unnachahmlichen Mischung aus Laszivität und Kindlichkeit zerplatzen; am Ende probt sie mit ihren Schwestern Todesarten. In „Lost in Translation“ ist die erste Einstellung – eine Nahaufnahme von Scarlett Johanssons Hintern, bekleidet nur mit einer durchscheinenden rosa Unterhose – ein Echo auf den Beginn von „The Virgin Suicides“. Dass die Aufnahme nicht deplatziert wirkt, hat viel mit Coppolas Stilsicherheit zu tun. „Ich bin schließlich kein Mann, der sie lüstern anschaut.“

Und woher rührt die Neigung zur Melancholie? „Wenn man etwas Schönes schätzen lernt und zugleich weiß, dass es nicht dauern wird, stimmt das traurig. Es schafft aber auch Freude, weil man das kurze Leben einer Sache wertschätzt. Ich mag diese Art der Melancholie, wie wenn man verliebt ist und es schrecklich und großartig in einem ist.“

Wenn Schönheit vergeht, muss auch „Lost in Translation“ ein Ende finden. Bob wispert Charlotte zum Abschied etwas ins Ohr; dem Zuschauer bleiben die Sätze verborgen, aber sie zaubern ein Lächeln auf Charlottes Gesicht. Ob sie wisse, was Bob sage? „Sicher“, antwortet Sofia Coppola. „Aber ich werde es Ihnen ganz bestimmt nicht verraten.“