Die Familienbande

Der Fall Parmalat ist auch ein Fall Italien. Hier herrscht – mit waghalsiger Finanzierung – der „capitalismo familiare“

AUS ROM MICHAEL BRAUN

Es war ein taffes Team, das in Collecchio vor den Toren Parmas den Ton angab. Finanzchef Fausto Tonna hatte bei den Beschäftigten der Parmalat-Zentrale den Ruf, ein durchsetzungsstarker Mann der schnellen Entscheidungen zu sein; wenn er den Schlüssel zum Büro vergessen hatte, schlug er schon mal die Glasscheibe der Tür ein, wenn die Rechenmaschine nicht funktionierte, flog sie eben in hohem Bogen aus dem Fenster. Gesitteter benahm sich da schon Calisto Tanzi, Mehrheitseigner und absoluter Padrone der Firma. Aber auch er war ein Industriekapitän, wie er im Buche steht. Jeden Tag vom Morgen bis zum späten Abend saß er an seinem Schreibtisch, dreimal pro Woche ließ er sich von den Chefs der Auslandstöchter über den Gang der Geschäfte briefen, alle wichtigen Personalentscheidungen – beginnend bei der Auswahl des buchhalterisch so kreativen Tonna – traf er selbst.

Kurz: Tanzi war ein Unternehmer, dem ein hervorragender Ruf vorauseilte. Er hatte Parmalat aus dem Nichts groß gemacht, hatte die kleine Wurstbude der Vorfahren in einen Milch- und Nahrungsmittelmulti verwandelt. Beliebt bei den Massen in Italien, aber auch in Brasilien, in Nicaragua, in Venezuela wurde er als Förderer von Fußballclubs genauso wie als frommer Spender für die katholische Kirche. Und jetzt? Jetzt muss Tanzi sich als Verbrecher schmähen lassen, als mieser Betrüger und Finanzjongleur.

Aber der Fall Tanzi ist auch ein Fall Italien, typischer für den dortigen Kapitalismus, als seinen Unternehmerkollegen lieb sein kann. Nach Gutsherrenart und zugleich unter Zuhilfenahme fast immer waghalsiger, manchmal krimineller Finanzkonstruktionen geführte Unternehmen sind in diesem System die Regel: in einem System, das die Ökonomen als capitalismo familiare, als immer noch rein familiär verfassten Kapitalismus, charakterisieren. Anderswo, in den USA, in Deutschland, mögen die Manager den Ton angeben, die Pierers oder Pischetsrieders – in Italien dagegen schwingen familiäre Dynastien das Zepter in der Großindustrie. Da sind die alten Namen, die Fiat-Agnellis, die Reifen-Pirellis, die Stahl-Falcks. Da sind die untergegangenen Geschlechter wie die Büro-Olivettis. Und da sind die Newcomer: die Benettons, Berlusconi und eben Tanzi. Die managementgeführte „Public Company“ mit breit gestreutem Aktionärsbesitz dagegen sucht man in Italien vergebens. Selbst die großen Privatisierungen staatlichen Eigentums sollten daran nichts ändern: Telecom Italia wird heute von Pirelli kontrolliert, und die Autobahngesellschaft Autostrade S.p.A. landete bei den Benettons.

Das hat für die Chefs die schöne Seite, dass sie im eignen Reich unbeschränkt herrschen, dass sie zudem die Herrschaft vererben können: Tanzis Tochter führte jetzt schon bei der Tourismusfirma Parmatour die Minusgeschäfte, während der Sohnemann beim Fußballclub Parma Calcio die Verluste anhäufte. Genauso hält es Silvio Berlusconi, der seine zwei Erstgeborenen an der Spitze der Mediaset platziert hat. Doch es gibt auch eine unschöne Seite: Italiens Industriekapitäne sind chronisch klamm, erreichen aus eigner Kraft nie die kritische Größe, um wirklich Global Player zu werden. Auf dem Aktienmarkt wollen sie sich nicht so recht bedienen – sonst riskierten sie ja die Kontrolle des Unternehmens. So werden an der Börse höchstens Vorzugsaktien oder Minderheitspakete gehandelt. Also verschulden sich die Berlusconis oder Tanzis bisweilen über alle Maßen, früher bei den Banken, heute gern bei Anleihezeichnern. Nach einer jetzt vorgenommenen Schätzung sollen die großen Firmen auf einem Schuldenberg hocken, der das Viereinhalbfache ihrer Kapitalisierung ausmacht.

Italiens Bosse balancieren auf einem dünnen Seil. Manchmal hält es – wie bei Berlusconi, dessen Medienkonzern in der ersten Hälfte der Neunziger als überschuldet galt. Manchmal reißt es, wie bei Tanzis Parmalat, wie bei dem Römer Sergio Cragnotti, dessen Lebensmittelholding Cirio letzten Sommer zusammenbrach, wie bei Raul Gardini, der erst den Chemieriesen Ferruzzi-Enimont in die Pleite führte und sich dann 1993 erschoss. Wenn er nicht ein paar dicke Auslandskonten angelegt hat, dürfte auch Calisto Tanzi jetzt ruiniert sein. Niemand aber weiß, wie viele Tanzi-Wiedergänger in Italien weiterhin munter und kreativ Geschäfte machen.