Die Mitte und ihr Maß

Weil die neue alte Mitte nicht über Eliten reden will, bleibt Deutschland die Mittelmaßrepublik mit Führungsfilz. Doch ein offener Diskurs ist notwendig. Wer sich dieser Debatte verweigert, spielt den Interessen von sinistren Korps in die Hände, die jenseits jeder demokratischen Kontrolle operieren

von WOLF LOTTER

Die Unauffälligsten sind meist die Schlimmsten. Die Bundesforschungsministerin Edelgard Bulmahn, die bis diese Woche für die meisten Deutschen nicht mehr war als die DIN-Vorlage für eine etwas verhuschte Oberstudienrätin, ist ein schönes Beispiel dafür. Da stand sie nun in Weimar vor der Elite ihrer Partei und sagte: „Elite wird man nur durch Leistung.“

Als Assistent wirkt der übliche Verdächtige: Schon im Vorjahr erweckte SPD-Generalsekretär Olaf Scholz den Anschein, dass er die Realverfassung der Bundesrepublik nicht so ganz verinnerlicht hat. Da doktorte er am Begriff der sozialen Gerechtigkeit rum. Da schwante den Genossen bis weit unten im Ortsverband, dass da einer nach oben gerückt war, der nicht wusste, was in diesem Land jeder zu wissen hat: Wir sind alle gleich. Und jetzt im Verbund mit Bulmahn der ungeheuerliche Vorschlag: Zehn Eliteuniversitäten, mindestens, wären sinnvoll, um das offenkundige Leistungsdebakel deutscher Unis zu bekämpfen.

Wie heulten da die Rektoren, Professoren und andere Leistungsträger der akademischen Beamtenschaft auf. All jene also, die sich bei der praktischen Lösung aktueller gesellschaftlicher Probleme mit dem diskreten Charme der Bourgeoisie aus der Affäre ziehen, fanden den Begriff Elite ganz und gar unmöglich.

Das liegt nicht daran, dass sie sich nicht als Teil einer Elite verstehen, sondern an den Spielregeln, die herrschen. Die hat am treffsichersten Theodor W. Adorno formuliert: „Elite darf man im Namen Gottes sein, niemals darf man sich aber als solche fühlen.“ Fühlen heißt hier: darüber reden. Das gilt für Wissenschaftler, Forscher und Künstler, und auch für Manager und Politiker. Sie alle schweigen über ihre Rolle. Wir sind alle gleich – und was nicht passt, wird passend gemacht. Hans Robert Metelmann etwa, Bildungsminister Mecklenburg-Vorpommerns, ruft in die Elitendebatte: „Wir brauchen nicht auch Eliteunis, sondern nur Eliteunis.“

Darauf kann sich Hinz und Kunz und Metelmann ebenso einen Reim machen wie der durchschnittlich aufgeklärte Intellektuelle. Letztere fassen den Begriff der Elite nicht mal mit der Zange an. Dahinter steckt die übliche historisierende Oberflächlichkeit, die in deutschen Schreib- und Denkstuben zur Grundhaltung gehört. Reflexartig schnellt der Gutmensch hoch, wenn das Wort Elite fällt. Elite? Waren das nicht die Nazis? Machten jene Elite nicht für immer zum Unwort? Doch der Faschismus war eine Massenbewegung, eine Normierung in die Breite, die keine Überlängen akzeptierte. Im „Dritten Reich“ wurde – den Fantasien von der Züchtung einer arischen Herrenelite zum Trotz – das Mittelmaß vom Mittelmaß regiert, das nur in einem außergewöhnlich war, in seiner Bestialität. Die Geschichtsklitterung hat ihre Wirkung getan. Das Wort Elite ist verbrannt, Konservative wie Linksliberale im Land ersetzen es mit dem bedeutungslosen Begriff „Spitze“ – und selbst das nur verschämt.

Der Begriff Elite stammt aus dem Französischen und hat seinen Ursprung im 17. Jahrhundert, als sich ein selbstbewusster werdendes Bürgertum gegen die etablierten Herrschaftssysteme des Adels und des Klerus abzugrenzen begannen. Durch Leistung entstand nach ihrer Auffassung eine Meritokratie, ein Leistungsadel auf Zeit, dem jeder angehören konnte, der das Talent dazu besaß. Das steht in krassem Widerspruch zum Herrenmenschen, für den, darin dem Adel ähnlich, Blut allemal dicker ist als Wissen.

Zwischen den Geisteseliten der Weimarer Republik und dem Herrenmenschentum der Nazis herrschte ein Abstand, der in der Realität nicht geschlossen werden konnte. Damit blieb ein Ausweg: die Vernichtung der wirklichen Eliten, der Außergewöhnlichen, der Intellektuellen, der Wissenschaftler, der Schriftsteller der Weimarer Republik. Und ihnen folgten, bis zum Ende des „Dritten Reiches“, viele Außergewöhnliche, die sich nicht im Mittelmaß der Diktatur durchlavieren wollten. Einzelne und Gruppen, aber jeder für sich und an sich verantwortlich handelnd: die Minderheit, die Elite des Widerstands.

Doch das Ende des „Dritten Reichs“ war nicht gleichzeitig das Ende des Triumphs des Durchschnitts. Die bundesrepublikanische Frühgesellschaft förderte die, die dem Mainstream am willigsten gefolgt waren. Der Mitläufer war und blieb deutscher Meister aller Klassen. Die alten Eliten wiederum hielten sich sorgsam bedeckt – frei nach Adorno kam kein erhabenes Gefühl hoch.

In den Fünfziger- und frühen Sechzigerjahren verbat sich ein Diskurs über Eliten von selbst, nicht etwa der jüngeren Geschichte wegen, sondern schlicht aufgrund der Tatsache, dass alle Kräfte für den wirtschaftlichen Wiederaufbau gebraucht wurden. Nivellierung kann Wunder bewirken, sogar Wirtschaftswunder, aber sie sind nicht von Dauer und, schlimmer, sie haben keine Perspektive.

Als das offenkundig wurde, trat eine neue Avantgarde an, die mit Nachdruck darauf bestand, anders zu sein, aber auf keinen Fall unterscheidbar. Der 68er-Bewegung gelang das Kunststück, die Ursachen dessen, was sie in den Widerstand führte, die Uniformität der Nachkriegsgesellschaft, gleichsam zu ihrem zentralen Markenzeichen zu machen. Wer von der unterschiedslosen Gesellschaft träumt und anstand, egalitäre Verhältnisse unter Einsatz der Besten – und der Würdigung der Leistungen dieser Besten – herbeizuführen, gerät vom Regen in die Traufe. Der Marsch des heute regierenden Establishments durch die Institutionen erfolgte auf vertrautem Terrain, dem, auf dem schon die Eltern gewandelt waren. Mittelmaß in Progress – eine absurde Situation mit entsprechend kurzer Halbwertszeit. Seit die Betroffenen das begriffen haben, sind sie zu Reaktionären geworden, die vor allem eines nicht dulden: abweichende Meinungen, abweichende Leistungen.

Die vorbildlose Gesellschaft will vor allem eines: ihre Ruhe. Die akademische Elite ist ein eindrucksvolles Beispiel dafür. Kritische Stimmen werden nur noch vernommen, wenn es um die eigenen Taschen geht. Ist das nur mit Resignation zu erklären?

Nein. Denn es könnte ja auch sein, dass die Elite, die sich selbst nicht so nennen mag, einfach keine ist, also nichts beizutragen hat zu den Fragen, die sich heute stellen. Ist es so abwegig, dass das Establishment gar nichts zu diskutieren hat, was von Wert ist für diese Gesellschaft? Fakt ist: Sie suchen keinen Streit, nicht mal den Diskurs, und all das geht auch noch durch, denn wo nichts ist, kann niemand etwas fordern. Das ist der Konsens des Korps: Alles muss sich ändern, damit alles so bleibt, wie es ist.

Was muss sich ändern? Erstens die Debattenlage. Es muss heftig darum gestritten werden, wofür Eliten überhaupt nütze sind. In Wirtschaft, Politik, Gesellschaft gab es in der Bundesrepublik nicht einen Konsens, sondern jeweils mehrere Konventionen, kleine, auf Segmente beschränkte Deals, was oben war und was unten. Leitbild-Pluralismus könnte man wohlwollend nennen, was in Wahrheit nur in der Angst bestand, in der zunehmend nivellierten Masse der neuen Republik aufzufallen – schon gar nicht mit außergewöhnlichen Leistungen.

Ralf Dahrendorf hat vor mehr als 40 Jahren diese Gemütsverfassung von Intellektuellen, Unternehmern, Managern und Spitzenforschern in Deutschland das „Kartell der Angst“ genannt, das auch erkläre, weshalb Deutschland – anders als England, Frankreich, Italien oder den USA – kein einheitliches Elitenbild hat: „Die Vielfalt der deutschen Führungsgruppen war eine Vielfalt derer, die eines Tages erschrocken zur Einsicht erwachten, dass sie nunmehr an der Spitze stehen und niemand mehr über sich haben. Der Schreck war stärker als das Selbstbewusstsein, sie waren auf ihre neue Stellung nicht vorbereitet. Und so beschlossen sie, die Ansprüche, die sie aus dieser Stellung ableiten konnten, nicht zu erheben, sondern sich jeweils auf ihren eigenen Bereich zurückzuziehen.“

Die Mitläufer wachten kurz auf – um vor Schreck gleich wieder in einen tiefen Schlaf zu fallen. So wurden die potenziell Besten zu Teilen eines alles erstickenden Korporatismus.

Auch das, worüber nicht geredet wird, gedeiht irgendwie, in Deutschland im Verborgenen. Die Seilschaften im Management und in der Politik, in den Hochschulen und Organisationen sind nicht außer Kraft gesetzt. Sie werden von den ängstlichen Erben jener ausgefüllt, die Dahrendorf schon in den Sechzigerjahren unangenehm auffielen. So entsteht eine halbe Elite, nämlich eine, die sich verschweigt, und damit auch außerhalb jeder demokratischen Kontrolle steht. Der Filz ist dicht im Land, und Eliten haben wir keine. Wir brauchen sie aber, die Besten, die im Auftrag und zum Wohl aller arbeiten, eine gesellschaftliche Abteilung, die bereit ist, mit allen am Tisch zu sitzen, weil sie hören will.

Stattdessen wird Deutschland von den Korps bestimmt, die laut aufschreien, wenn eine Elitendebatte droht. Diese Seilschaften, die in Wirtschaft und Politik die Strippen ziehen, haben jedes Interesse daran, dass der Leistungsbegriff, das Wort Elite, im öffentlichen Raum nicht fällt. Dies käme einer Enttarnung ihrer eigenen Rolle gleich, einer beschämenden Enthüllung des Mittelmaßes, das nach wie vor energisch alle Kursabweichler plattmacht. Die Diktatur der Kumpanei – wir sind alle gleich, und was uns nicht passt, machen wir passend.

Das hysterische Gezeter, das anhebt, wenn das Wort Elite fällt, ist von gestern – und die Voraussetzung einer halben Demokratie, in der sich die, die können, zusehends ins Dunkel verabschieden. Das haben wir bereits. Die Alternative dazu wird durch Leistung getragen. Wenige sind mehr.

Der Autor ist Redakteur des Wirtschaftsmagazins brand eins