Nur ein kleiner Piks

An den Blutproben von Neugeborenen haben Forscher ein vielfältiges Interesse. Oftmals wissen die Eltern gar nicht, was mit den Resten der Blutproben geschieht und wo sie aufbewahrt werden

von KLAUS-PETER GÖRLITZER

Erst wenige Tage auf der Welt, werden Babys hierzulande routinemäßig gepikst: Aus der Ferse des Säuglings entnehmen Mediziner, Pflegekräfte oder Hebammen ein paar Tropfen Blut, die sie auf einen Teststreifen aus Filterpapier geben. Anschließend wird die Blutprobe ins Labor geschickt – zwecks Analyse auf eine Reihe ernster, sehr seltener Stoffwechselstörungen wie Phenylketonurie (PKU) oder Galaktosämie. Ohne Therapie kann PKU zu geistiger Behinderung führen, bei Galaktosämie drohen Leberschäden und Erblindung. Beide Stoffwechselstörungen können mit spezieller Diät erfolgreich behandelt werden.

Nur bei auffälligem Befund werden die Eltern über das Laborergebnis unaufgefordert informiert; viele dürften den frühzeitigen Aderlass ihres Kindes so wieder schnell vergessen haben. Ein gutes Gedächtnis kann im Zeitalter der Molekulargenetik allerdings hilfreich sein. Denn die Probe wird nicht vollständig verbraucht, ein Teil des Blutes verbleibt im Teststreifen. „Aus diesen Restblutproben“, weiß die Bundestagsabgeordnete Gisela Piltz, „können noch Jahre nach der Blutentnahme persönliche Gesundheitsdaten, einschließlich der genetischen Informationen, festgestellt werden.“

„Datenschutzrechtliche Gefahren“ ahnend, wollte die FDP-Politikerin per kleine Anfrage vom Bundesgesundheitsministerium erfahren, ob das Blut vernichtet wird oder wer es wo zu welchem Zweck aufbewahrt. Im September antwortete die Parlamentarische Gesundheitsstaatssekretärin: „Die Bundesregierung“, so Marion Caspers-Merk (SPD), „geht davon aus, dass Restblutproben, die im Rahmen des Neugeborenenscreenings entnommen und nicht verbraucht werden, vernichtet werden.“ Weitere Erkenntnisse lägen ihr nicht vor.

Caspers-Merk hätte es besser wissen müssen. Denn bereits im Juli hatte der damalige hessische Datenschutzbeauftragte Friedrich von Zezschwitz öffentlich kritisiert, dass das Universitätsklinikum Gießen eine zentrale Datei führt, in der Blut und Namen aller Menschen erfasst sind, die nach 1972 in Hessen geboren wurden. Quelle der Proben und Daten: das Neugeborenenscreening. Die Sammlung, warnte von Zezschwitz, eigne sich als „potenzielle Gendatenbank“ – eine Option, die das Gießener Screening-Zentrum sofort weit von sich wies. Den Ärzten argumentativ zur Hilfe eilte der CDU-Landtagsabgeordnete Peter Beuth; der Innenpolitiker behauptete, langjähriges Aufbewahren der nicht anonymisierten Proben sei zur Wahrung der Betroffenenrechte notwendig.

Es gibt keine einheitlichen Regelungen

Die Praxis in Hessen ist sicherlich kein Einzelfall. Datenschützer auch anderer Bundesländer mühen sich derzeit, Verbleib und eventuelle heimliche Nutzungen von Screening-Restblut zu klären. So viel steht fest: Die Proben werden nach dem Test in der Regel nicht vernichtet. Mal lagern sie in Unikliniken, mal in privaten Labors oder Gesundheitsämtern. Eine einheitliche Regelung, wie mit Blutresten verfahren werden soll, gibt es nicht.

Unhaltbar findet dies die Vorsitzende Richterin am Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen, Ruth Schimmelpfeng-Schütte. „Archive von Restblutproben“, schrieb sie in der Zeitschrift Medizinrecht, „bergen ein enormes Machtpotenzial.“ Sie könnten „jederzeit für die Errichtung von Gendateien genutzt“ werden. Kämen Versicherer oder Personalchefs an die Daten, sei „dem Missbrauch Tür und Tor geöffnet“: Menschen mit als „riskant“ geltenden Erbanlagen könnten von Versicherungen und Arbeitsplätzen ausgeschlossen werden.

An Blutprobensammlungen interessiert sind auch manche Politiker, die sich als Garanten der „inneren Sicherheit“ profilieren wollen. Zum Beispiel Erwin Sellering (SPD), Justizminister von Mecklenburg-Vorpommern. Er plädiert nicht nur dafür, Zulässigkeit und Anwendung von Gentests im Rahmen von Strafverfahren erheblich auszuweiten. Im November schlug Sellering sogar allen Ernstes vor, das Genprofil jedes Neugeborenen zu speichern. Allerdings fügte Sellering hinzu, derzeit sei seine Idee wohl nicht durchsetzbar.

Kurzfristig realistischer als solche Fantasien ist eine andere Möglichkeit: dass Restblut und persönliche Daten, die zwecks Neugeborenenscreening gewonnen wurden, stillschweigend zum Aufbau so genannter Biobanken mit genutzt werden. Solche Sammlungen von Blut, Zellen, Geweben und Gesundheitsdaten halten viele Genforscher für dringend erforderlich. Mit Hilfe der Körpersubstanzen hoffen sie, genetische Risikofaktoren und Ursachen für Krankheiten finden zu können. Zu diesem Zweck fördert das Bundesforschungsministerium eigens ein „Nationales Genomforschungsnetz“, das sich mit so genannten Volkskrankheiten beschäftigt, unter anderem Krebs, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Alzheimer, Epilepsien, Schuppenflechte. Allesamt gelten diese Leiden als „multifaktoriell“ bedingt, sie haben also vielfältige Ursachen.

Für Wissenschaftler interessant sind nicht nur Patienten mit bestimmten Erkrankungen. Erklärtes Ziel ist es auch, in Biobanken repräsentative Bevölkerungsgruppen zu erfassen.

Einwilligung der Eltern sollte vorliegen

Die aus Blutproben ermittelten Genprofile sollen im Rahmen epidemiologischer Studien mit vielfältigen Daten verknüpft werden: Informationen über Erkrankungen, körperliche Merkmale, Lebensstil, Medikamentenkonsum und Umwelteinflüsse.

Für derartige Studien wären gerade die beim Screening erlangten Blutproben von Babys aus Forschersicht ein idealer Fundus: Sie bilden nahezu den gesamten Nachwuchs ab, denn fast alle Eltern willigen – mehr oder weniger aufgeklärt – in die Reihenuntersuchung ein.

Um der Zweckentfremdung wenigstens einen juristischen Riegel vorzuschieben, verlangt Richterin Schimmelpfeng-Schütte: „Restblutproben des Neugeborenenscreenings sind grundsätzlich an den Eigentümer zurückzugeben oder zu vernichten.“ Wer Säuglingsblut für Forschungen nutzen wolle, müsse die Eltern darüber ausdrücklich informieren, wissenschaftliche Vorhaben verständlich erläutern und eine schriftliche Einwilligung der Eltern einholen.

Die Vorschläge decken sich mit den Empfehlungen von Datenschützern. Ob die Bundesregierung sie aufgreift, wird sich bald zeigen: Noch in diesem Jahr will Rot-Grün einen Entwurf für ein Gentestgesetz vorlegen, das laut Caspers-Merk auch die Verwendung genetischer Proben regeln soll. Beabsichtigt sei, sowohl die informationelle Selbstbestimmung der Bürger zu schützen als auch die Freiheit der Forschung zu gewährleisten.

Die Freiheit, die sich die Lobby wünscht, ist weitreichend: Die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) hat sich auf den seit langem angekündigten Gesetzentwurf vorbereitet und eine ausführliche Stellungnahme zur prädiktiven genetischen Diagnostik veröffentlicht. Darin findet es die DFG „ethisch und rechtlich vertretbar“, genetische Proben und Daten „ohne Bindung an bereits konkretisierte Forschungsvorhaben“ zu speichern und zu bearbeiten. Nach Meinung der DFG genügt es, wenn ein „Spender“ der wissenschaftlichen Nutzung seiner Körpersubstanzen pauschal zugestimmt hat – eine Art Blankoscheck also. Wer einmal eingewilligt habe, dürfe nur ein zeitlich begrenztes Recht zum Widerruf bekommen – „zum Beispiel auf ein bis drei Jahre nach Probengewinnung“, wünscht sich die DFG.

Und was Forscher einmal bekommen haben, wollen sie möglichst unbegrenzt behalten: Eine Pflicht, genetische Daten und Gewebeproben nach einer bestimmten Zeit automatisch zu vernichten, lehnt die DFG vehement ab – mit Worten, die höchst gewichtig klingen: „Weil damit der Menschheit ein wesentlicher Teil ihres genetischen Erkenntnispotenzials verloren ginge.“