„Im Osten entsteht vielleicht eine radikale Jugendbewegung“, sagt Lutz Niethammer

Die „Zonenkinder“ waren zu jung, um das Ende der DDR als Befreiung zu erleben. Nun suchen sie nach Orientierung

taz: Die „Zonenkinder“-Generation, also die um 1980 im Osten Geborenen, haben Literaten entdeckt. Was interessiert Sie als Historiker daran?

Lutz Niethammer: Der Vorteil von uns Zeithistorikern ist, dass wir schon zu DDR-Zeiten ein einzigartiges Privileg hatten – nämlich seit 1967 eine große lebensgeschichtliche Untersuchung in Chemnitz, Bitterfeld und Eisenhüttenstadt zu machen. Dadurch haben wir eine Art Langzeitblick für die Entwicklungslogiken der Generationen in der DDR bekommen. Wenn Historiker sich mit der Gegenwart beschäftigen, hat das natürlich eine gewisse Unschärferelation. Aber man bekommt ein gewisses prognostisches Gefühl, eine Intuition.

Und wie ist Ihre Prognose?

Wir gehen von zwei Anregungen aus: Die soziologische Theorie des frühen 20.Jahrhunderts beleuchtete den Zusammenhang zwischen gesellschaftlichen Ordnungsbrüchen und darauf folgenden Neuorientierungen. Und Historiker haben beobachtet, dass es nach den in Deutschland besonders ausgeprägten Diskontinuitäten mit einem gewissen Zeitversatz immer zu radikalisierten Jugendbewegungen gekommen ist.

„Radikalisierte Jugendbewegung“ – das klingt befremdlich angesichts der schnellen Anpassung der Jungossis an den Kapitalismus.

Man muss unterscheiden. Jene, die noch in ihrer Pubertät alle Repressionen und Mängel der DDR erlebt haben und beim Mauerfall mindestens 15 Jahre alt waren, haben in aller Regel ja die Wende genossen und die neuen Möglichkeiten genutzt. Es geht um die Jüngeren, die keinen reifen Systemvergleich anstellen können. Sie haben eine geschützte Kindheitswelt verloren und sind in eine Welt von lauter Zumutungen hineingeworfen worden. Ihre Eltern konnten nicht mehr richtig Eltern sein, weil sie selber überlastet waren mit Verlustprozessen in der neuen Freiheit. Wenn sie nun verstärkt die Sinnfrage stellen, erscheint der Westen als unbefriedigend und ohne Tiefgang.

Und deshalb sprechen Sie von einer Generation? Ist das nicht vorschnell?

Generationen werden nicht dadurch geprägt, dass alle das Gleiche denken, sondern dass alle vor der gemeinsam empfundenen Herausforderung Unterschiedliches denken und es dann zu Prägnanzbildungen durch Opposition kommt. Deshalb suchen wir eigentlich mit offenem Visier und gucken nicht nach neuen 68ern im Osten. Wir können nicht von repräsentativen Ergebnissen berichten, sondern nur von einem Forschungsprozess. Aber besonders unsere studentischen Interviews haben generationentypische Polarisierungen gezeigt.

Welche Muster sind das?

Grob eingeteilt drei: Sinnsucher, Ordnungssucher und Gemeinschaftssucher. Die Sinnsucher wollen nicht erwachsen werden. Sie wohnen lange zu Hause, fahren nicht nach dem Westen, sondern nach Rumänien, experimentieren mit fernöstlichen Religionen, machen Projekte in Kuba, nehmen nur zögernd oder ziellos eine Ausbildung auf. Sie glauben nicht an einen Ordnungssinn. Der Sinn muss dagegen entwickelt werden und wird oft nur in der Nische gefunden. Die Ordnungssucher haben wir bisher hauptsächlich bei jungen Männern gefunden. Sie gehen im Grunde auch von einer Verwilderungserfahrung aus, insbesondere, wenn sie eine behütete Kindheit in der DDR hatten. Sie finden nun z. B. in ihrer Bundeswehrzeit eine neue Ganzheitsmaschine, die ihnen institutionellen Schutz gibt und wo sie als Ostdeutsche nicht diskriminiert werden. Auch die rechte Szene, um die es nur scheinbar stiller geworden ist, bietet ein Potenzial für die Ordnungssucher. Die Gemeinschaftssucher liegen irgendwo dazwischen.

Unterscheiden Sie exakt genug zwischen schlichten Pubertätserscheinungen und der spezifischen Lage im Osten?

Ich denke – ja. Ein Umstand, der von früheren Radikalisierungsphänomenen abweicht, ist die relativ intakte Familie, durch die kaum ein Riss geht. Kinder werden zu Eltern ihrer Eltern in einer Art Schicksalsgemeinschaft. Sie glauben, die Eltern haben als symbolische Verlierer weniger Chancen als sie selber.

Unterscheiden sich die „Zonenkinder“ von ihren Altersgenossen in anderen postkommunistischen Gesellschaften?

Ja. Dort herrscht ein stärkerer Zwang zum materiellen Überleben. Zugleich gibt es noch weit radikalere Verweigerungstypen. Sie firmieren unter sarkastischen Begriffen wie „Generation Nichts“ oder „Polnische Versager“. Das verweist wieder auf die Sondersituation der Ex-DDR. Einerseits besteht ein hohes materielles Grundniveau, andererseits ist das pluralistische System mehr übergestülpt als erworben worden.

Wie wird sich die Generation im Osten entwickeln? Wird es eine „Normalisierung“ oder „Radikalisierung“ geben?

Ich bin ein fröhlicher Skeptiker. Skeptisch bin ich aber gegenüber einer „Hoffnung auf Gesundung“. Deshalb weise ich ja auf mögliche Polarisierungen hin. Wer zum Wortführer werden wird, ist aber nicht vorherzusagen. Wir wollen Aufmerksamkeit für die Potenziale wecken.

INTERVIEW: MICHAEL BARTSCH