So erklären Sie sich die Welt

AUS BERLIN HANNES KOCH

1. Glauben Sie nicht den Leuten von Attac

Am kommenden Freitag beginnt der Gipfel der Globalisierungskritiker, das Weltsozialforum in der indischen Stadt Bombay. Dann wird wieder ein Argument besonders bemüht: Die Globalisierung während der Neunzigerjahre habe die Welt schlechter und ungerechter gemacht. Die Liberalisierung der weltweiten Wirtschaft und der Herstellung eines einheitlichen globalen Markts nach dem Ende der Sowjetunion habe die „Schere zwischen armen und reichen Länder“ weiter geöffnet. Die Armen würden ärmer und die Reichen reicher, sagt Attac. Diese Position ist renovierungsbedürftig.

2. Lesen Sie Statistiken, die Ihnen nicht in den Kram passen

Nach neuen Berechnungen unter anderem des Ökonomen Xavier Sala-i-Martin hat der Unterschied zwischen Reichtum und Armut im globalen Durchschnitt während der Neunzigerjahre nicht zugenommen. In ihrem Bericht über die Entwicklung der Menschheit 2003 kommt die Entwicklungsorganisation der Vereinten Nationen (UNDP) zu dem Schluss, dass „sich die weltweiten Durchschnittseinkommen anscheinend annähern“. Das legt die Entwicklung des so genannten Gini-Koeffizienten nahe. Die nach dem italinienischen Ökonomen Corrado Gini benannte Messzahl stellt dar, über wie viel Vermögen zum Beispiel die reichsten 10 Prozent der Weltbevölkerung im Verhältnis zu den ärmsten 10 Prozent verfügen. Steigt der Gini-Koeffizient, bedeutet dies zunehmende Polarisierung und Ungerechtigkeit. In den Neunzigerjahren ist die Messzahl laut Sala-i-Martin um rund 5 Prozent gefallen.

3. Glauben Sie den Globalisierungskritikern doch

Denn auch die können sich auf den UNDP-Bericht 2003 berufen. „Das Ergebnis hängt davon ab, wie man die Frage stellt“, heißt es dort. In 21 Staaten der Erde ist der Entwicklungsindex HDI (Human Development Index), der Parameter umfasst wie Lebenserwartung, Bildungsstand und Pro-Kopf-Einkommen, in den Neunzigerjahren gesunken. Das war vor allem in Ländern der ehemaligen Sowjetunion der Fall (Weißrussland, Tadschikistan oder Moldawien) und in Afrika südlich der Sahara (darunter Tansania, Elfenbeinküste, Burundi). In Kenia, Simbabwe und Kasachstan ist die Kindersterblichkeit gestiegen. 54 Staaten dieser Erde sind im vergangenen Jahrzehnt ärmer geworden als zuvor, schreibt die UNDP. Die Globalisierung hat diesen Ländern entweder nicht geholfen oder ihre Lage verschärft.

4. Widmen Sie sich den Details

Sonst werden Sie nicht erfahren, wie die unterschiedlichen Befunde zusammenpassen. Insgesamt deutet einiges darauf hin, dass das Zusammenwachsen des Weltmarkts und die Liberalisierung des Warenverkehrs das weltweite Wirtschaftswachstum begünstigt haben. Das hat einerseits dazu geführt, dass auch die Ärmsten der Armen etwas abbekommen. So ist der Anteil derjenigen Menschen, die von weniger als einem Dollar pro Tag leben müssen, während der Neunzigerjahre von 30 auf 23 Prozent der Weltbevölkerung gesunken.

Nach Zahlen der Weltbank hat unter anderem Chinas Öffnung für die Marktwirtschaft dazu beigetragen, dass 150 Millionen Chinesen die Grenze tiefster Armut hinter sich gelassen haben. Diese Entwicklung lässt die weltweite Armutsstatistik im Zeitalter der Globalisierung freundlicher aussehen – relativ. Rechnet man China jedoch heraus, ist die Zahl der Bettelarmen gestiegen, in Afrika südlich der Sahara von 241 auf 315 Millionen Menschen zwischen 1990 und 1999. Dadurch verschärft sich das krasse Wohlstandsgefälle im Verhältnis zu den Einwohnern der nördlichen Industriestaaten. Relativ abnehmende Armut im Weltmaßstab und schärfere Polarisierung in einzelnen Regionen sind zwei Bestandteile derselben fragmentierten Entwicklung.

5. Reisen Sie nach Vietnam oder Uganda

Dort können Sie sehen, dass wirtschaftliche Liberalisierung und größere Möglichkeiten für privates Kapital nicht unbedingt schlecht sein müssen. Nach Daten der Vereinten Nationen hat Vietnam die Armut von einst über 70 Prozent auf unter 50 Prozent verringert. Hunderttausende neue Arbeitsplätze in privaten Klein- und Kleinstfirmen haben dazu ihren Beitrag geleistet. Uganda unter der Regierung von Yoweri Museveni gilt als relativ gelungenes Beispiel dafür, wie durch die Privatisierung von Staatsbetrieben, die Öffnung für internationale Firmen, durch Programme gegen Aids und Investitionen in die Bildung der Lebensstandard, ausgehend von niedrigstem Niveau, wenigstens ein bisschen angehoben werden konnte. Beide Länder haben in den vergangenen zehn Jahren mit durchschnittlich über 5 Prozent ein erstaunliches Wirtschaftswachstum hingelegt.

6. Nehmen Sie ernst, was in Indien passiert

Dort zeigt sich die Welt in ihrer ganzen Zweischneidigkeit. Einerseits nahm der Anteil der Armen auf dem Land, die sich weniger als die offiziell zum Leben notwendigen 2.400 Kalorien pro Tag leisten können, in der ersten Hälfte der Neunzigerjahre von über 40 Prozent auf rund 35 Prozent ab. Die Zahl der Analphabeten ist drastisch gesunken und die durchschnittliche Lebenserwartung gestiegen. Ausländische Investitionen, unter anderem im Gefolge des Aufschwungs der indischen Softwareindustrie, waren daran nicht unbeteiligt. Im Jahr 2050, so prognostiziert die Investmentbank Goldman Sachs, werde Indien die drittgrößte Wirtschaft der Welt sein – hinter den Vereinigten Staaten und China.

7. Halten Sie Widersprüche aus

Innerhalb Indiens freilich nimmt die soziale Polarisierung extrem zu. Die positive Entwicklung spielt sich vor allem in den südlichen und westlichen Bundesstaaten ab, während im östlichen und ärmsten Bundesland Bihar der Anteil der Menschen unter der Armutsgrenze auf fast 60 Prozent angestiegen ist. Indien wird durchschnittlich wohlhabender, aber ein Teil der Bevölkerung verarmt noch mehr – ein Befund, der für die Welt insgesamt gilt.

8. Wagen Sie einen Blick in die Zukunft

Die Globalisierung hat Nachteile, sicher aber auch Fortschritt gebracht. Dieser allerdings ist in Gefahr – zum Beispiel durch Aids. Unter anderem weil die entwickelten Staaten zu geringe Mittel für die Eindämmung der Krankheit zur Verfügung stellen und die Pharmakonzerne den Handel mit billigen Nachahmermedikamenten erschweren, greift die Krankheit weiter um sich. In Simbabwe wird die durchschnittliche Lebenserwartung von einst 67 Jahren bis 2005 auf 32 Jahre sinken. Die UN rechnet damit, dass allein China 2025 mit 70 Millionen Aidsfällen zu kämpfen haben wird, Indien mit 110 Millionen. Die Krankheit ist eine enorme Bedrohung auch für die wirtschaftliche Entwicklung. Ein Beispiel: In Sambia sind 1998 etwa 1.300 Lehrer an Aids gestorben, ein Drittel aller Lehrkräfte, die pro Jahr ausgebildet werden.

10. Betrachten Sie die Globalisierung mal ganz grundsätzlich

Interessieren Sie sich nicht dafür, ob die Ungleichheit auf der Welt zu- oder abnimmt. Fragen Sie lieber, wie groß sie ist. Die Entwicklungsorganisation der Vereinten Nationen findet deutliche Worte: „Die Ungleichheit ist noch immer grotesk“, heißt es im UNDP-Bericht 2003. Das reichste 1 Prozent der Weltbevölkerung verfügt über dieselbe Einkommenssumme wie die 57 ärmsten Prozent. Etwa 60 Millionen Menschen, die meist in den Industriestaaten des Nordens leben, verdienen genauso viel wie 3,2 Milliarden Menschen, die meist in Entwicklungsländern zu Hause sind.

11. Machen Sie die Globalisierung trotzdem nicht für alles verantwortlich

Dass die Menschen auf dieser Welt ärmer oder wohlhabender werden, hat einiges mit Weltmarkt und wirtschaftlicher Liberalisierung zu tun – aber nicht alles. Die miese Lage in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion liegt in erster Linie in der Verantwortung der dortigen Eliten. Die Regierung manchen arabischen Landes gefällt sich darin, Investitionen in das Bildungssystem links liegen zu lassen. Und die Armut in China ist schwerlich den Versäumnissen westlicher Konzerne anzulasten. Die Globalisierung unter der Vorherrschaft der Vereinigten Staaten, Europas und Japans ist eine beherrschendes Phänomen – alles erklären aber kann sie nicht.