Die Muster der Differenz

Das moderne Kopftuch ist sowohl eine „erfundene Tradition“ wie Teil einer jugendlichen Protestbewegung. Das Kopftuchverbot in Frankreich schadet der Integration der Muslime. Und es taugt nicht als Vorbild für die deutsche Debatte

Für viele markiert das Kopftuch die Abgrenzung von einem säkularen ElternhausGegen das Kopftuch-Dekret im Namen von Freiheit, Gleichheit und Menschenrechten

VON DANIEL BAX

„Wir sind die, vor denen uns unsere Eltern immer gewarnt haben“, stand einst als neckischer Spruch auf Aufklebern, die Anfang der Achtzigerjahre WG-Türen und Kneipenwände zierten. Heute ist es nicht mehr so einfach, mit seinem Look und Lebensstil die eigenen Eltern zu schockieren. Außer man macht es so wie die beiden Schwestern Alma und Lila, 16 und 18, aus Aubervilliers, einem Vorort von Paris. Nach den letzten Sommerferien entschieden sich die beiden Mädchen, ihr Leben fortan nach den Regeln des Islams auszurichten und zum äußeren Zeichen dafür ihre Haare mit einem Kopftuch zu bedecken: aus „Schamgefühl“ und „religiöser Überzeugung“, wie sie später den Medien erklärten.

Ihre Eltern, ein Rechtsanwalt jüdischer Herkunft sowie eine Wirtschaftsprofessorin algerischer Abstammung, waren naturgemäß wenig begeistert: Sie sähen aus „wie Ostereier“, lautete der knappe Kommentar der Erziehungsberechtigten. Doch die beiden Teenager ließen sich nicht beirren und gingen mit dem Kopftuch in die Schule. Weil sie sich weigerten, es im Unterricht abzunehmen, wurden sie kurzerhand vom Lyzeum verwiesen.

Ausgerechnet diese bizarre Episode bildete den Anstoß für die landesweite Kopftuchdebatte, die Frankreich in den vergangenen Monaten in Atem hielt. Sie endete damit, dass Staatspräsident Jacques Chirac Mitte Dezember in einem dramatischen Akt ein striktes Verbot aller religiösen Symbole an staatlichen Schule verfügte. Darunter fallen auch jüdische Kopfbedeckungen wie die Kippa und auffällige Kreuze, die am Hals getragen werden. Doch der Bann richtet sich in erster Linie gegen das islamische Kopftuch, das bis vor kurzem noch von mehreren tausend Schülerinnen in ganz Frankreich getragen wurde. Bis das präsidiale Dekret damit Schluss machte, war es den einzelnen Erziehungseinrichtungen selbst überlassen, wie sie mit dem Kopftuch verfahren wollten.

Es liegt nahe, die Geschichte der beiden Schwestern aus Aubervilliers als pubertäre Verwirrung abzutun. Der Fall zeigt aber auch, wie der Islam zu einer jugendlichen Protestkultur geworden ist, an die sich ohne viel Vorwissen anschließen lässt, und die Parallelen zu anderen Protestbewegungen aufweist.

Entstanden ist dieser politisierte Islam als Antwort auf eine autoritäre Säkularisierung, die bis in die Siebzigerjahre hinein in vielen islamischen Ländern vorherrschte. Das Scheitern vieler Regimes speziell in der arabischen Welt, ihren Bürgern den erhofften Wohlstand zu bringen, hat den Aufstieg islamischer Bewegungen begünstigt. Dabei sind die Grenzen zwischen religiöser Rückbesinnung und politischen Projekten oft fließend. Bei vielen Muslimen, die ihren Glauben nicht nur im privaten Rahmen, sondern auch öffentlich leben wollen, sind religiöse Überzeugungen eng verzahnt mit Vorstellungen darüber, wie eine Gesellschaft der Muslime gestaltet sein sollte. Mit ihrem eigenen Auftreten leben sie es denjenigen Glaubensbrüdern und -schwestern vor, die ihrer Meinung nach den rechten Pfad verlassen haben.

Das Kopftuch und der Vollbart des Propheten sind dabei zu den markantesten Insignien dieser Gegenkultur geworden: keine Uniform einer politischen Partei, sondern der kleinste äußere Nenner einer äußerst vielgestaltigen Bewegung. Bei einer radikalen Minderheit führte dieser Weg in dogmatische Verhärtung und in den Terror. Für die Mehrheit dagegen steht das Bekenntnis zur individuellen Frömmigkeit im Vordergrund.

Dieser politisierte Islam ist ein modernes Phänomen. Seine antimoderne Tendenz ist eine Antwort auf die Herausforderungen und Entfremdungen, welche die Moderne mit sich bringt. Postulierte die Öko-Bewegung als Antwort darauf ein „Zurück zur Natur“, so predigen die modernen Theoretiker des politischen Islam ein „Zurück zur Religion“. Was sie jedoch als deren ursprünglichen Sinn ausmachen, hat mit der Tradition oft nicht mehr viel zu tun.

Dieser neue Islam hat eine eigene Warenästhetik und eigene Konsumgüter entstehen lassen, von Parfüms ohne Alkohol bis zur notorischen „Mecca-Cola“. In Indonesien sind sogar Auto-Aufkleber en vogue mit Slogans wie „Power of Moslem“ oder „Islam is beautiful“. Dieser Islam der neuen urbanen Mittelschichten hat anspruchsvolle philosophische und politische Theorien und eine triviale Erbauungsliteratur hervorgebracht. Und er hat sich feministische, ökologische und globalisierungskritische Positionen zu Eigen gemacht. In ihrer Kritik an Materialismus und Konsumkultur stünden viele Muslime den Globalisierungskritikern von Attack sehr nahe, hat der Schweizer Philosoph Tariq Ramadan, ein unter jungen Muslimen populärer Islam-Theoretiker, erst jüngst hervorgehoben.

Das moderne Kopftuch ist in diesem Zusammenhang das, was der Historiker Eric Hobsbawm eine „erfundene Tradition“ genannt hat. Als globalisiertes Zeichen für den Islam in der Moderne hat er vielerorts lokale Variationen des traditionellen Schleiers verdrängt. Statt wie das traditionelle Kopftuch etwa in der Türkei, das locker unter dem Hals geknotet wurde und stets ein paar Haarsträhnen frei ließ, rahmt dieses moderne Tuch das Gesicht fast luftdicht ein.

Dieser modern-islamische Dress-Code war und ist besonders attraktiv für Jugendliche aus den unteren Mittelschichten, die aus einem nicht städtisch geprägten Umfeld stammen, aber in der Großstadt aufgewachsen sind und dort ihren Platz suchen. Dabei spielt es nur eine untergeordnete Rolle, ob diese Großstadt in der Türkei oder in Deutschland liegt, in Ägypten oder Frankreich. Die demonstrativ islamische Kleidung wirkt identitätsstiftend, sie vermittelt Halt und Selbstwertgefühl. Selbstbewusst bekennen sich die Träger damit zu Werten, die von ihrer westlich orientierten Umwelt als „rückständig“ angesehen werden, zu Religiosität und einer konservativen Sexualmoral.

Mit Kopftuch und „islamischer“ Kleidung signalisieren sie, dass sie sich gegen die vorherrschende Anpassung an einen westlichen „way of life“ wenden. Werden sie, wie in der Türkei, in Frankreich oder jetzt in Deutschland, mit Kleidungsverboten konfrontiert, berufen sich auf universelle Werte wie Religionsfreiheit. Und fordern damit das oft doppelbödige Demokratieverständnis und den unscharfen Toleranzbegriff dieser Gesellschaften heraus.

Kritiker des Kopftuchs wenden gerne ein, das Kopftuch propagiere die Ungleichheit von Mann und Frau, wenn nicht weibliche Unterordnung. Sie sehen in ihren Trägerinnen die fünfte Kolonne einer prinzipiell undemokratischen Bewegung. Wenn sie sich an einer Hermeneutik des Kopftuchs versuchen, gerät das allerdings leicht in den Bereich von Unterstellungen.

Muslime pflegen dagegenzuhalten, dass das Kopftuch zwar die Differenz der Geschlechter betone, dies aber nicht gegen die Gleichberechtigung spreche. Wer sich an biologistisch argumentierenden Bestsellern à la „Warum Männer lügen und Frauen immer Schuhe kaufen“ nicht störe, könne daher auch am Kopftuch eigentlich nichts auszusetzen haben. Auch steht der Kritik entgegen, dass die meisten Kopftuchträgerinnen sich weder parteipolitisch noch ideologisch an eine bestimmte Gruppierung gebunden fühlen.

Eine Reihe von soziologischen Studien haben die Gründe erforscht, warum sich junge muslimische Frauen heute ein Kopftuch umbinden und damit in die Öffentlichkeit gehen. Dabei erweisen sich die Motive als so unterschiedlich wie die Muster, mit denen sie bedruckt sind. Für viele markiert es die Abgrenzung von einem Elternhaus, das säkular oder sogar nichtmuslimisch ist, wie im Falle der Mädchen aus Aubervilliers. Auch die Mutter von Fereshta Ludin, die afghanische Lehrerin, die vor dem Bundesverfassungsgericht geklagt hat, trug kein Kopftuch.

In den meisten Fällen bildet das Kopftuch für viele junge Frauen jedoch so etwas wie den Stoff gewordenen Kompromiss zwischen eigenen Karriere-Ambitionen und den Erwartungen des familiären Umfelds, mit dem man nicht brechen möchte. Als bedeckte Muslima, die mit ihrem Kopftuch zeigt, dass sie die Prinzipien von Anstand und Tugendhaftigkeit verinnerlicht hat, können muslimische Frauen und Mädchen aus konservativen Elternhäusern ihren Aktionsradius erweitern, an der Universität studieren und öffentlich in Erscheinung treten. Oft geht das Kopftuch bei ihnen mit einer Kritik an patriarchalen Traditionen einher, welche die Frau auf ihre Hausfrauenrolle beschränken wollen: ein Grund, warum das Kopftuch von vielen Trägerinnen als Zeichen der „Emanzipation“ und „Freiheit“ bezeichnet wird.

Viele Muslime erleben ihre Religiosität als bewusst gewählte, individuelle Entscheidung. In diesen Fällen wird das Kopftuch als selbst bestimmte Wahl empfunden. Dabei wird neben der religiösen Argumente häufig eine geradezu feministische Begründung für die Verhüllung herangezogen: Sie biete Schutz vor Blicken und sexuellen Zudringlichkeiten und betone die „inneren Werte“. Das geht dann meist Hand in Hand mit einer Kritik an moderner Konsumkultur und sexualisierter Werbung, wo Frauen als Ware gehandelt und auf ihren Körper reduziert würden. Von der Mehrheitsgesellschaft, die ihnen ablehnend gegenübersteht, fordern sie das Recht auf Anerkennung von Differenz ein.

Seit dem 11. September allerdings hat in manchen westlichen Gesellschaften die Bereitschaft dafür deutlich nachgelassen. Auch in Deutschland: Zwar unterrichten in einigen Bundesländern, darunter Hamburg und Nordrhein-Westfalen, bereits ein gutes Dutzend Lehrerinnen mit Kopftuch. Aber nach dem Grundsatzurteil des Bundesverfassungsgericht sind Politiker in 7 bis 8 von 16 Bundesländern fest entschlossen, die gesetzliche Grundlage für ein Kopftuchverbot für Lehrerinnen zu schaffen. Die Front der Kopftuchgegner geht dabei quer durch alle Parteien und politischen Lager und gebiert illustre Koalitionen zwischen Feministinnen und Rechtspopulisten.

Was Kirchen und konservative Politiker antreibt, auf der angeblichen politischen Sprengkraft des Kopftuchs zu bestehen, ist klar: Sie wollen nicht, das es gleichgesetzt wird mit den religiösen Symbolen etwa des Christentums. Was aber Linke und Liberale dazu bringt, einer verordneten Leitkultur und einer Art neuen Radikalenerlass für Lehrerinnen das Wort zu reden, bleibt im wahrsten Sinne schleierhaft. Ist es der Versuch, das Versagen auf anderen Gebieten zu kompensieren – etwa im Kampf gegen den Rechtsradikalismus, dem auch nicht mit Kleidergeboten beizukommen ist? Da ist es zumindest pikant, dass dies nun ausgerechnet auf dem Rücken einer eingewanderten Minderheit ausgetragen wird.

Oder zeugt es von Amnesie gegenüber der eigenen Geschichte? Endlich selbst in der Mitte der Gesellschaft angekommen, will man anderen nicht die politischen und biografischen Verwirrungen zugestehen, die man selbst einmal durch gemacht hat. Es mutet jedenfalls merkwürdig an, wenn grüne Politiker, die in ihrer Jugend stolz darauf waren, mit lila Latzhosen, Anti-AKW-Plaketten und Palästinensertüchern in den Unterricht zu kommen, jetzt plötzlich der Meinung sind, das Klassenzimmer sollte um jeden Preis ein neutraler Raum sein.

Es zeugt auch von einem seltsamen, autoritären Bild von Schule, ausgerechnet in Verbot und Ausschluss ein Mittel zu sehen, um zu Liberalität und Toleranz zu erziehen. Und es überschätzt den Einfluss von Lehrern auf die Entwicklung von Schülern. Lehrer geben für Schüler nur sehr selten modische oder ideologische Vorbilder ab.

Natürlich muss man den Islamismus bekämpfen. Dass geht aber nur, indem man die Moderaten einbindet und die Radikalen ausschließt. Indem man Integration fördert, statt die Assimilation zu fordern. Und auf soziale Prozesse setzt, statt auf starren Prinzipien zu beharren. In Frankreich wird man sehen, wohin übermäßige Prinzipienreiterei führt. Das Land verfügt über die größte islamische Minderheit in der Europäischen Union, die ungefähr fünf Millionen Menschen umfasst, und besitzt damit eine Art Vorbildfunktion für den Kontinent. Zum präsidialen Dekret vom Dezember gehört dort auch ein Passus, der Arbeitgeber ermächtigt, gegen das Tragen von Kopftüchern in ihren Betrieben vorzugehen, ob aus „Sicherheitsgründen“ oder im Sinne der Kundenpflege.

Auch in Deutschland mehren sich die Hinweise, dass Arbeitgeber muslimische Bewerberinnen aufgrund ihres Kopftuchs ablehnen. Noch werden die Demonstrationen in Frankreich gegen das Kopftuchdekret von jungen Mädchen angeführt, die auf ihr Recht auf freie Religionsausübung pochen: nicht im Namen des Korans, sondern im Namen von Freiheit, Gleichheit und den allgemeinen Menschenrechten. Doch das Verbot droht das Vertrauen in die westliche Auffassung von Demokratie und Toleranz zu untergraben. Es ist Wasser auf die Mühlen all jener, die stets behaupten, dass im Westen ohnehin alles gegen die Muslime gemünzt werde.

In Lille hat zudem eben die erste islamische Privatschule des Landes eröffnet. Dort wird nach dem gleichen Lehrplan gelehrt wie an den staatlichen Schulen, daneben gibt es Unterricht in arabischer Sprache und „islamischer Kultur“. Die Gründung wurde 1997 beschlossen, als 20 Mädchen von der örtlichen Schule verwiesen wurden, weil sie ihr Kopftuch nicht ablegen wollten. Wenn sich an der aktuellen Entwicklung nichts ändert, dürfte der Bedarf an solchen Privatschulen in Frankreich in der nächsten Zeit rapide wachsen. So befördert das Kopftuchverbot ebenjenen Rückzug aus der Gesellschaft, den Politiker in Sonntagsreden gerne wortreich beklagen. Und er wirft jene Muslime, die einen Weg in die Gesellschaft suchen, auf die Gemeinschaften zurück, die sich in ihren Nischen eingerichtet haben.