Die Empörung des Herzens

Der amerikanische Soziologe Amitai Etzioni verteidigt eine universale Moral gegen die Indifferenz des Multikulturalismus

Das Bundesverdienstkreuz am Revers deutet es schon an: Amitai Etzioni hat in seinem moralischen Kampf gegen den Individualismus und das Primat der Ökonomie auch hierzulande seinen Beitrag geleistet. Politiker ganz unterschiedlicher Couleur wie Joschka Fischer oder Helmut Kohl haben sich von seiner kommunitaristischen Gemeinschaftsidee inspirieren lassen. Und der Mann steckt voller Anekdoten. Zum Beispiel der von dem indischen Fakir, der einem Kolonialbeamten erzählt, dass die ganze Welt auf dem Rücken einer Schildkröte ruhe. Und worauf ruht diese Schildkröte? Natürlich auf dem Rücken einer weiteren Schildkröte.

Das ist auch die Kröte, die Etzioni am Donnerstag im Potsdamer „Einstein-Forum“ seinen Zuhörern zu schlucken gab: Gesellschaftliche Moral kennt keine letzte Begründung, sondern wird einfach gesetzt. So kann Etzioni in seinem „Jenseits des Relativismus“ betitelten Vortrag umstandslos zur Sache kommen und das Ende des multikulturellen Werterelativismus einläuten: „Nach einer Phase des offenen moralischen Dialogs müssen wir wieder eine Balance zwischen individueller Freiheit und einem gleichen Maß an Beschränkung finden, die sich in Tugenden und Gesetzen artikuliert.“ Denn was dem Bürger in seiner Gemeinschaft frommt, kann auch im globalen Maßstab nicht falsch sein. Ein moralischer Indifferentismus, der sich in attitüdenhaftem Respekt den interkulturellen Konflikten um Menschenrechts- und Umweltfragen entzieht, hat sich für Etzioni längst erledigt. Gerade für die globalisierte Weltgemeinschaft fordert der amerikanische Soziologe ein Prinzip der Artikulation moralischer Gesinnung, das schon die Gründerväter der USA in Anspruch genommen haben: den Rekurs auf eine begrenzte Anzahl selbstevidenter Wahrheiten, die sich jedem einzelnen Menschen in unmissverständlicher Stimme offenbaren sollen.

Glaubt man Etzioni, zeichnet sich darin das diskursive Fundament einer künftigen universalen Moral ab. Dabei räumt er durchaus ein, dass es der Welt auch bislang nicht an gefühlt selbstevidenten Wahrheiten mangelt. Doch Etzionis Wahrheiten begründen sich keineswegs aus persönlichen Geschmacksurteilen, sondern müssen sich erst im Dialog erweisen. Eine internationale Organisation wie die UNO habe hier versagt. Denn in ihren Resolutionen sei stets nur von Rechten, nicht aber von Verantwortung und Pflichten die Rede.

„Die Welt hat keine moralische Stimme. Sie haben eine,“ appelliert Etzioni an seine Zuhörer.

„Im Innern Ihres Herzens sind Sie empört, wenn Sie von der Steinigung einer Ehebrecherin erfahren. Das können Sie entweder für sich behalten, weil Sie sich nicht einmischen sollen, oder Sie artikulieren Ihre Moral und kommen zu besseren Resultaten.“

Etzionis moralische Dialoge müssen mit Leidenschaft geführt werden. Darum haben sie auch nichts mit einem pragmatisch-demokratischen Konsens durch Mehrheitsentscheid oder einem rational-kommunikativen Handeln à la Habermas zu tun. Sie sollen auf der Gegenseite Resonanz auslösen. Nicht durch die Macht des Stärkeren, sondern durch gezielte moralische Appelle sei so schon die internationale Ächtung sexueller und rassistischer Diskriminierung geglückt.

Unter den rund 50 Zuhörern in Potsdam regt sich Skepsis. Denn die konkrete Ausgestaltung eines moralischen Dialogs, schon gar über selbstevidente Wahrheiten, wird von Etzioni nur vage umrissen. „Wen meinen Sie jetzt eigentlich, wenn Sie von „uns“ reden?“ fragt eine konsternierte Zuhörerin. „Nur Sie und mich“, erwidert er.

JAN-HENDRIK WULF