10 Bier und du fliegst raus

Antonio Negris Held – oder ein Autor für die „Besserverstehenden“? Mit dem dreitägigen Symposium „Explosion of a Memory“ wurde jetzt das große „Heiner-Müller-Geburtstagsjahr“ 2004 eingeleitet

Die zerbrechlichen Worte klangen sehr persönlich und wie eine Liebeserklärung

VON DETLEF KUHLBRODT

Am 9. Januar 2004 wäre Heiner Müller 75 Jahre alt geworden. Anlässlich dessen erinnert man sich seiner wieder. Zum Beispiel mit siebzehn verschiedene Inszenierungen seiner Stücke im gesamten Bundesgebiet, die für dies Jahr angekündigt sind, und mit einem „Heiner-Müller-Geburtstagsjahr“, das die „Internationale Heiner Müller Gesellschaft“ ausgerufen hat und das mit einer dreitägigen, „Explosion of a Memory“ betitelten Tagung eingeleitet wurde.

Die gut besetzte Veranstaltung fand in der Berliner Akademie der Künste statt, die Müller in den 90ern kurzzeitig geleitet hatte. Stargast war der italienische Theoretiker Antonio Negri („Empire“). Es gab Vorträge, Diskussionen, Theateraufführungsschnipsel an thematisch geordneten Tagen. Der Frei- und Geburtstag Heiner Müllers war quasi der Jugend gewidmet. Es sollte darum gehen, wie Müllers Texte auf die Erfahrungen junger Leute treffen.

In der Begrüßungsansprache war die Rede davon, dass „Kunst machen nicht mitmachen heiße“, dass es mit Müller darum gehe, der „Maschinenlogik“ zu trotzen, dem Fortschrittsfetischismus zu widersprechen. Viel Publikum war gekommen, das Jazzorchester Prokopätz machte flotte Musik, und auf der Treppe der Eingangshalle der angenehm sixtiesmäßigen Akademie der Künste führten Schauspielschüler Müllers Minidrama „Herzstück“ in zehn Variationen auf.

In dem Stück will der eine dem anderen sein Herz zu Füßen legen. Das Herz geht nicht raus, ein Taschenmesser muss ran und – o weh – „Ihr Herz ist ein Ziegelstein. – Aber es schlägt nur für Sie.“ Mal wird das Stück zu zweit, mal zu viert, mal sexualisiert, mal in roten Mäntelchen aufgeführt, und einer brüllt dabei auch immer was von „Deitschland“. Später gab’s das Gleiche noch mal als Minioper von Friedrich Goldmann, gesungen von Eiko Morikawa, was zu pubertären Lachgelüsten führte.

Müller hatte „Herzstück“ übrigens geschrieben, als er besoffen aus der Kneipe kam. Komplizierter als das doch recht teenagerhafte Stück schien der Satz, den eine junge Frau auf ihrem großen Busen trug: „10 Bier und du fliegst raus.“ Dann sprachen neun junge Theatermacher und Literaturwissenschaftler über ihre Erfahrungen mit Müller. Die einen, die Bücher über Müller & Jünger, Hölderlin usw. geschrieben haben oder durch die Gegend fahren, um internationale Regisseure nach deren Müller-Erfahrungen auszufragen, lobten, wie üblich, die die tolle Kraft seiner Sprache. Die Müller-Macher dagegen sagten, sie wollten ihm die Schwere nehmen oder sprachen, wie Regisseur Lukas Langhoff etwa, davon, wie sie Müller zunächst abgestoßen hatte. Ein Autor für „Besserversteher“, zu denen sie sich nicht zählen wollten. Aber dann entdeckten sie diesen tollen Rhythmus seiner Sprache.

Tags darauf ging es um Terror. Man hatte den Eindruck, als hätte man halt einen interessanten Begriff aus dem Werk des Dichters genommen und dazu dann eben diskursanschlussfähige Intellektuelle eingeladen, die irgendwann auch mal was über Müller geschrieben hatten oder – wie Dirk Baecker – von ihm gelobt worden waren. Am Vormittag also wollte der 1971 geborene Berliner Autor Marcus Steinweg zeigen, dass „FREIHEIT, GLÜCK, VERANTWORTUNG und SELBSTBEJAHUNG möglich sind“, am Nachmittag sprach der Systemtheoretiker Dirk Baecker, wie gewöhnlich klar und mit angenehmer Stimme, über „Terrorismus oder die Politik der Gesellschaft“. Es ging unter anderem darum, dass ein System erst vollständig sei, wenn es seine Negation enthält; dass zur Vervollständigung unseres Gesellschaftssystems also der Terrorismus gehört, der das Gewaltmonopol des Staats angreift.

Am Abend dann, viel umjubelt, Toni Negri. Der schlanke, elegante Theoretiker sah klasse aus. Im Gefängnis hatte er Müllers „Mommsens Block“ gelesen. Sein Auftritt allerdings gestaltete sich etwas zäh, was sicher auch daran lag, dass er übersetzt werden musste. Aber nach einer Stunde hatte man sich an diese angenehme Langsamkeit in der erwartungsvollen Stille des Saales gewöhnt, und es war wirklich schön, ihm beim Sprechen zuzuschauen, dem eleganten Italienisch zuzuhören, dass man nicht verstand. Wobei es nur am Rande um Heiner Müller („ein Held“) ging. Vor allem sprach Negri über die „Biomacht“ des Empire, verteidigte den Begriff der „Multitude“, der ein wenig an die Randgruppentheorien von Marcuse erinnerte, sagte zuweilen: „und da sind wir wieder bei Heiner Müller“, und schloss nach zwei Stunden mit der Parole: „Nur die Mobilisierung der Einzigartigkeiten kann zu einem Schwarm der Widerstandsaktionen führen.“

Am letzten Tag der schönen Heiner-Müller-Tagung sprachen dann Literaten und Theaterleute aus dem arabischen Raum über den Dichter, den sie oft nur recht bruchstückhaft kannten, oder trugen im kleinen, irgendwie romantischen Klubraum der Akademie mit Blick auf graue Bäume hinter der Fensterfront sehr schöne Gedichte vor. Arabisch scheint eine Sprache wie gemacht für die Poesie. Die in Ägypten geborene, in Paris lebende Dichterin und Regisseurin Safaa Fathy, die 89/90 bei Heiner Müllers „Hamlet“-Inszenierung am Deutschen Theater hospitierte, las aus ihrem Gedichtzyklus „Für Heiner Müller“. Die zerbrechlichen Worte klangen sehr persönlich und wie eine Liebeserklärung. Eine Weile unterhielt man sich in der Dämmerung noch über eine Inszenierung von „Schlacht“ in Kuwait 1993 mit irakischen und kuwaitischen Schauspielern. Dann war’s auch bald zu Ende.