Leichthändige Trauerspiele

Amélie Niermeyer kann alles, was Kulturpolitiker heute brauchen. Zuletzt war sie gleich für acht Intendanzen im Gespräch. Ein Porträt von Deutschlands zurzeit begehrtester Theaterintendantin

„Umwege zum Paradies“ – so lautet Amélie Niermeyers Motto der SaisonManchmal greift sie in Endproben anderer Regisseure ein. Sie nennt das „beraten“

VON DOROTHEA MARCUS

Es ist nicht einfach, dieser Tage einen Termin mit Amélie Niermeyer zu bekommen. Der Freiburger Neujahrsempfang, die Opernpremiere, die eigenen Proben zu „Moby Dick“. Am Sonntag kann die „jüngste und erfolgreichste Intendantin des deutschen Theaters“, wie sie die Süddeutsche Zeitung, die sie in letzter Zeit kräftig lanciert hat, beschrieb, dann aber doch. Sie kommt mit dem Fahrrad zur Theaterpforte gefahren, zwanzig Minuten zu spät. Die jüngste Generalintendantin Deutschlands ist viel beschäftigt und hat sich mit eineinhalb Spielzeiten in der Freiburger Provinz so einen hohen Marktwert erarbeitet, dass sie in den vergangenen Monaten für acht Intendantenposten im Gespräch war.

Amélie Niermeyer hat die Angebote nicht gezählt, die ersten kamen schon vier Monate nach Beginn ihrer Freiburger Intendanz. Sie redet schnell, ein bisschen atemlos, macht kaum Pausen. Sie blickt einem stets direkt ins Gesicht, und wenn ihr ein Satz aus der letzten Kritik nicht gefällt, sagt sie es deutlich. Amélie Niermeyer könnte sich keine bessere PR-Agentin suchen als sich selbst. Sie hat eine entwaffnende Freundlichkeit, die es schwer macht, ihr bohrende Fragen zu stellen. Zum Beispiel, ob es nicht doch ein wenig stillos war: nur wenige Tage, nachdem sie vollmundig verkünden ließ, 2005 nicht nach Stuttgart zu gehen, bekannt zu geben, dass sie 2006 in Düsseldorf Intendantin wird.

Zumindest in Freiburg nimmt man ihr das übel und ist ziemlich beleidigt, fühlt sich als Durchlauferhitzer für ihre Karriere benutzt. So lange hatte man sich auf sie gefreut, so fulminant war ihr Beginn, und nun ist bereits der Abschied eingeleitet – auch wenn sie noch mindestens eineinhalb Jahre bleibt. „Dass die Entscheidung für Düsseldorf noch vor Weihnachten fallen musste, war unglücklich“, gibt sie zu, „da hätte ich mir mehr Zeit geben sollen.“

Eigentlich kann man es schon verstehen: dass sie es satt hatte, jeden Freiburger Cent umzudrehen. All die kostbare Zeit zu verschwenden, um immer nur über Geld zu diskutieren. Einer Stadtverwaltung das Theater zu erklären. Keine Stelle mehr besetzen zu können, Luft und Zeit zum künstlerischen Arbeiten zu verlieren. Auf Podiumsdiskussionen als die Kämpferin aus Freiburg herumgereicht zu werden.

Wie wird man Deutschlands gefragteste Intendantin? Niermeyer hat das nicht geplant, sie hält sich noch nicht einmal für ehrgeizig. Trotzdem hat sie scheinbar mühelos jene Quadratur des Kreises vollbracht, die an deutschen Stadttheatern so oft misslingt: Publikum zu integrieren auf hohem Niveau. Ihr Theater verschließt sich nicht im selbstreferenziellen Kunstbezug, biedert sich aber auch nicht an. Niermeyer hat einem Theater, dessen Schauspielsparte sich vorher meist durch gepflegte Langeweile auszeichnete, ein hervorragendes Schauspielensemble beschert, Lebendigkeit, junge Regisseure, die sonst an großen Häusern arbeiten, überregionale Aufmerksamkeit und einen rasanten Zuschaueranstieg in einer Stadt voller Studenten, alternativer Szene, Bildungsbürger. Sie hat engagiert gegen die drastischen Sparankündigungen der Stadt gekämpft, bis sie teilweise zurückgenommen wurden – weshalb man sich in Freiburg nun besonders düpiert fühlt, weil sie trotzdem geht. Auch wenn es zwischendurch Zuschauereinbrüche gab und die zweite Saison weniger gut angelaufen ist als die erste – ihr Ruf steht jetzt geschrieben, bestätigt, fast schon verklärt.

Die Begeisterung über Amélie Niermeyer – sie ist sicher auch Ergebnis einer Theaterlandschaft, in der erfolgreiche junge Frauen nach wie vor eine Ausnahme bilden. Wie hübsch, dynamisch und frisch sie ist, ist zu oft geschrieben worden. Auch, dass sie in den gediegenen Altherrenverein der Theaterintendanten einen frischen Wind bringt, eine neue Chemie, weiblichen Charme, unverkopfte Bodenständigkeit und einen unverstellten Blick – Worthülsen, die sie dennoch gut beschreiben. Sie scheint so zugänglich, dass man sich gern sofort mit ihr duzen möchte – und gleichzeitig fühlt man sich sanft und energisch in den Dienst genommen. Niermeyer achtet genau auf ihre öffentliche Wirkung. Genau das macht es aber auch schwer, sie zu fassen.

Sie ist ein selbst ernanntes Theaterkind, eine Infizierte durch und durch: Mit siebzehn Jahren führte sie bereits ihre erste Regie, „Mann ist Mann“ in der Schule, kurz vor dem Abitur. Seitdem ist sie beruflich nicht aus dem Theater herausgekommen, war 1990 Hausregisseurin in München, ab 1992 Oberspielleiterin in Dortmund, 1995 dann in Frankfurt – sie inszeniert seit zwanzig Jahren, rund 45 Stücke, oft bürgerliches Trauerspiel.

Was sie mit Theater will, darauf will sie sich nicht in ein paar Sätzen festlegen lassen. Höchstens auf etwas, was sie den kleinsten inhaltlichen Nenner nennt: „Theater soll Fantasie anregen, soll andere Räume öffnen, sensibilisieren – so offen würde ich es gerne fassen. Ich will Menschen dazu bringen, über etwas nachzudenken, wofür sie sich sonst nicht die Zeit nehmen. Ich würde heute nicht mehr sagen, dass ich Botschaften mitgeben will – das ist vielleicht zu missionarisch. Es ist ein Geschenk, dass ich mich im Theater mit Themen beschäftigen kann, für die in der Gesellschaft zu wenig Platz ist.“ Amelie Niermeyer sagt nicht „Botschaften“, sie sagt „messages“. Sie spricht nicht druckreif, sondern so, wie es ihr in den Kopf kommt – das wirkt authentisch, aber auch etwas hastig.

Sie glaubt an die verwandelnde Kraft von Theater. Sie glaubt auch an Gott und ist vor einigen Jahren wieder in die evangelische Kirche eingetreten – aber darüber zu sprechen, ist ihr eigentlich zu privat.

Ihr Saisonmotto heißt „Umwege zum Paradies“, verbunden mit dem Autor Kleist. „Mit welchen Systemen, durch welche Hintereingänge suchen Menschen ihr persönliches Heil? Wie drängen sie anderen diese Weltsicht auf?“, erklärt sie. Zum Beispiel wie Kapitän Ahab, der seine Mannschaft mit wahnhaftem Hass in einen persönlichen Rachefeldzug treibt, den weißen Wal zur Verkörperung des Bösen erklärt, die Welt in sein System drängt. Oder wie Dorfrichter Adam, der sein Lügengebäude bis ins Letzte, Jämmerlichste, aufrechthält, der andere über die Klinge springen lassen würde für seinen persönlichen Vorteil. Oder wie Penthesilea, die ihren Geliebten zerfleischt, überwältigt von Liebe und Wahn, hineingesteigert, weggetragen von Raserei. Das Saisonmotto ist „eher ein innerer Zusammenhang, den der Zuschauer vielleicht nicht so merkt, der für uns aber sehr wichtig ist“. Indirekt hat bei der Stückauswahl der Irakkrieg eine Rolle gespielt, vor allem bei der Entscheidung, den monumentalen Roman „Moby Dick“ auf die Bühne zu bringen.

Niermeyer selbst ist nicht getrieben von einer Ästhetik oder einer Position, an der man sie sofort erkennen könnte. „Ich habe keine festgelegte Regiehandschrift. Für mich kommt zuerst der Autor, dann das Stück und dann meine Vision. Daraus ergibt sich mein Inszenierungsstil.“ Auch wenn Niermeyer, bevor sie Intendantin wurde, an großen Häusern inszeniert hat, ist das ohne Zweifel stadttheatertauglich und pragmatisch, auch wenn es im Kunstbetrieb eher als unfein gilt. Niermeyer dient der Geschichte, den Emotionen, dem Text. Und doch verändert sie Stücke gerne, um zu fokussieren, was sie erzählen möchte. In ihrem „Sommernachtstraum“ stirbt Zettel zum Schluss, weil er aus der Tierwelt nicht mehr zurückfindet. Effi Briest dagegen überlebt und wird wahnsinnig, weil Niermeyer sich vor allem für die „dunklen, traumverlorenen Abgründe der Effi“ interessiert hat. „Dunkel“ und „Abgründe“ sind dennoch Worte, die nicht zu Niermeyers Theater zu passen scheinen. Ihre Inszenierungen sind leichthändig und elegant, musikalisch, mit sicherem Gefühl für Rhythmus und Komik. Der „Sommernachtstraum“ spielte in einem herbstlichen Zauberwald aus roten, beleuchteten Fäden und glitzernden, mühsam bemalten Blättern, der Mond nahm pittoresk ab und zu, urkomisch jagten sich die unglücklich Liebenden, sorgten die schauspielernden Handwerker für Lacher um Lacher. In ihrer „Effi Briest“ glitten auf der Bühne zur Livemusik Zeit- und Ortsebenen gekonnt ineinander, Effi war eine dressierte, entfremdete Tochter auf der Schaukel, ein willenloser Köder, von der Gesellschaft in irrationale Ängste getrieben – und hatte mit einer modernen Frauenfigur nichts zu tun, mit Fontanes Effi aber auch nicht so viel. „Wie es euch gefällt“ ist dagegen zum Fragment geworden, ein Akt gestrichen, verirrte Teenager taumeln ortlos im traurigen Liebesreigen durch einen Wald, der ein Wohnzimmer ist.

Niermeyers Inszenierungen sind in Freiburg meistens ausverkauft. Sie ziehen zuverlässig badisches Publikum, doch wenn man sie „gefällig“ nennt, wird Niermeyer ungemütlich. Denn eigentlich sind ihre liebsten Autoren ganz andere: Elfriede Jelinek, Rainald Goetz oder Sarah Kane, die „wie keine andere Tiefe und Verzweiflung in ihre Figuren geschrieben hat“. Amélie Niermeyer „interessieren Stücke mehr, die fragmentarischer sind, zarter und zerbrochener, weniger greifbar“. Doch weil sie die nicht für tauglich hält für ein großes Haus, hat sie weder Goetz noch Kane jemals regulär inszeniert. Sie weiß, dass sie mit dem Publikum Kompromisse schließen muss. Und so lässt sie in Freiburg auch politisch korrekte „well made plays“ spielen wie Ilan Hatsors „Die Vermummten“, die sie eigentlich gar nicht mag; doch ihr Team hat sie davon überzeugt und der im Stück verhandelte israelisch-palästinensische Konflikt passt gut zum Spielzeitmotto. Vielleicht ersetzt ihre Kompromissbereitschaft das, was sie an eigener Handschrift vermissen lässt – Niermeyer lässt bewusst andere Meinungen und anders arbeitende Regisseure neben sich zu.

Immer wieder passiert es trotzdem, dass sie in Endproben eingreift, sie nennt es „beraten“. Oder sie übernimmt in den letzten zwei Wochen ganz die Regie, wie bei „Optimisten“, dem Stück ihres Lebensgefährten Moritz Rinke, wo sie für die erkrankte Regisseurin einsprang – zwischen den Vertragsverhandlungen für Düsseldorf, kurz vor Probenbeginn für „Moby Dick“. Den „Optimisten“ merkt man es an, dass sie mehr Zeit und eine einzige Regisseurin gebraucht hätten – zu unentschieden scheint, ob sie die Figuren respektiert oder verachtet. Das sind die Momente, wo man doch so etwas wie Unsicherheit spürt, was eigentlich das Ziel der Reise auf dem Theater ist.

Doch soll man ihr wirklich zum Vorwurf machen, dass sie nicht immer alles kann? Niermeyer kann auf jeden Fall alles, was Kulturpolitiker heute brauchen. Vielleicht kann man daran vor allem sehen, wie sich das Theater in Deutschland in den letzten Jahren verändert hat: keine provokanten Elfenbeintürme für Spezialisten mehr. Gemessen werden Theater heute eher an ihrer integrativen Kraft, und wie gut sie das Theater in Zeiten, in denen es von der kommunalen Politik immer stärker wie verzichtbares Gut gehandelt wird, verkaufen können.