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: Lauter Räusche

Zwei Welten zerreißen ein Herz: Zwischen den getrennten Systemen des Kalten Krieges entspinnt sich Colum McCanns Roman „Der Tänzer“. Der Held ist ein Tänzer, der von der Sowjetunion in den Westen geht, 1961, unschwer identifizierbar als Rudolf Nurejew. Er wird für den Autor zum Lotsen durch den Eisernen Vorhang, um diesseits, in der Sowjetunion der Fünfziger- bis Achtzigerjahre, eine den Atem und jeden Gedanken abschnürende Enge zu beschreiben, die dem Leben jeden Funken und jede Farbe nimmt. Jenseits aber, in New York, Paris und London, quält den Helden der Schmerz um seine verlorene Geschichte. Sein ganzes exzessives Leben, das aus Luxus, Glamour, Räuschen und Sex besteht, scheint nur eine einzige Abwehr des Heimwehs.

Ungeheuer virtuos spielt der Ire Colum McCann, 1965 in Dublin geboren, auf der Klaviatur der Gefühle. Er baut verschiedene Erzähler und Erzählperspektiven auf, die einzelnen Abschnitten aus dem Leben des Tänzers Rudi gewidmet sind. So umgeht er elegant das Problem, die legendäre Figur Nurejews aus einem Guss erschaffen zu müssen, und lässt den Star ganz eine Projektionsfläche unterschiedlicher Wünsche sein.

Zu den unterschiedlichen Stimmen des Romans gehören der Mann seiner ersten Tanzlehrerin, Intellektuelle in der Verbannung, die mit seinen ersten Schritten Verbindung zur ihrer Erinnerung halten. Zur Hauptfigur wird eine Zeit lang Tamara, die Schwester, die ihn liebt und doch Rudis Weggang immer nur als Verrat begreifen kann, der die eigene Familie dem Misstrauen und den kontrollierenden Instanzen bis in die intimsten Gedanken ausgeliefert hat: Je weiter er weg ist, desto fester schnürt sich ihre Welt zusammen. Das sind Mitleid erregende Kapitel vom Leiden an Ausschluss, Kontrolle, Fremdbestimmung. In einer weiteren Facette des russischen Elends wird Julia beleuchtet, die den jungen, ungestümen Tänzer eine Zeit lang in Leningrad beherbergt und mit dem Hunger nach geistiger Freiheit bekannt macht. Für sie alle wird er zum Gespenst, der ihnen lebenslang das Unerreichbare vor Augen stellt.

Den stärksten Gegenpol dieser Traurigkeit bildet Victor, Südamerikaner in New York und ebenso wie der Tänzer ein Aufsteiger aus sozialer Not. Über sechzig Seiten hinweg wird er als Rudis Zeremonienmeister einer orgiastischen Nacht im New York der Siebzigerjahre beobachtet, lange bevor Aids die Fantasien der Libertinage wieder zurückfuhr. In diesem Kapitel spart Colum McCann mit Punkten, sonst aber mit nichts. Er rutscht ohne Satzenden von Absatz zu Absatz, versucht wie einst sein berühmter Kollege James Joyce mit der Ökonomie der erotischen Verschwendung die Sprache selbst zum Überfließen zu bringen, zum sinnlich stimulierenden Rausch.

Allein dieses wohlkalkulierte Spiel mit den Gegensätzen, diese Mischung zwischen dem Sentimentalen und dem Geilen, ist auch das Ärgerliche an diesem erfolgreichen Roman. Er bietet Kolportage auf höchstem Niveau und steht seit Wochen dank Elke Heidenreich auf den oberen Plätzen der Spiegel-Bestsellerliste.

McCann weiß, wie man Klischees bedient, zum Beispiel vom Mythos der verzehrenden Einsamkeit des Künstlers. Mal nutzt der Tänzer selbst dieses Bild, um zu verführen; dann wieder leidet er daran wie in einer Passionsgeschichte. Dieser Wechsel, man ahnt es, soll ihm tragische Größe verleihen und ist doch auf Dauer erschöpfend, für den Tänzer ebenso wie für den Leser. KATRIN BETTINA MÜLLER

Colum McCann: „Der Tänzer“. Deutsch von Dirk van Gunsteren. Rowohlt Verlag, Reinbek 2003, 474 Seiten, 22,90 Euro