„Durch die Besatzung wird alles irreal“

Wie dreht man ein Roadmovie, wenn man sich nicht ungehindert bewegen kann? Ein Gespräch mit dem palästinensischen Regisseur Hany Abu-Assad über seinen Spielfilm „Rana’s Wedding“, das neue Genre des Road Block Movies und die Notwendigkeit, die Traumata der Israelis anzuerkennen

INTERVIEW CRISTINA NORD

taz: Herr Abu-Assad, Sie haben unter anderem an einem Checkpoint zwischen Jerusalem und Ramallah gefilmt, ohne dafür eine Drehgenehmigung zu haben. Wie sind Sie dabei vorgegangen?

Hany Abu-Assad: Als wir dort drehen wollten, sagte man uns: „Nein, das geht nicht. Das ist militärisches Sperrgebiet.“ Darauf sagten wir: „Okay, jedes Gebiet hat Grenzen.“ Schließlich wird ein Gebiet dadurch definiert, dass es Grenzen hat. „Zeigen Sie uns die Grenzen.“ Nach einigem Hin und Her zeigten sie uns eine Linie, die ziemlich weit weg war. Was sie nicht wussten, war, dass eine Kamera über eine solche Linie hinwegfilmen kann. Und genau das haben wir getan.

Das heißt, dass die israelischen Soldaten echt sind?

Ja.

Sodass die Realität zu einem Teil der Fiktion wird?

Genau. Ich benutze sie, um meine Geschichte zu erzählen. Darum geht es in dem ganzen Film: Wie kann ich meine Umgebung einsetzen, wenn ich meine Geschichte erzählen will? Normalerweise verfügt ein Filmregisseur über die Wirklichkeit, indem er sie der Fiktion anpasst. Aber in Palästina funktioniert das nicht, denn durch die Besatzung ist alles so durcheinander und so irreal. Die ständige Frage ist: Wer verfügt über wen?

Besatzung heißt auch, dass man sich nicht so bewegen kann, wie man möchte. Trotzdem sind die Figuren in „Rana’s Wedding“ ständig unterwegs.

Sicher, der Film ist ja auch ein Roadmovie. Nur dass es in Palästina überall Straßensperren gibt. Deswegen hat sich ein neues Genre herausgebildet: das Road Block Movie. Das ist die Antwort auf die Frage, wie man ein Roadmovie dreht, obwohl man sich nicht bewegen kann.

„Göttliche Intervention“ von Elia Suleiman lässt sich diesem Genre auch zurechnen, nicht wahr?

Ja, klar.

In „Rana’s Wedding“ verlaufen die Bewegungen der Figuren eher im Kreis. Die Erzählung hingegen wirkt sehr zielgerichtet.

Weil es ein Film über unsere Zeit ist, über die Verwirrungen der Gegenwart, den Kontrollverlust, darüber, wie im Chaos aus Besatzung, eigenen Ängsten und gesellschaftlichem Druck eine junge Palästinenserin eine Entscheidung trifft. Sie zweifelt zwar manchmal daran und fragt sich: „Ist er“ – also der junge Mann, den sie heiraten möchte – „überhaupt der Richtige?“ Dennoch ist sie sehr zielstrebig.

Manchmal lässt sie den Blick schweifen, etwa in der Szene, in der eine Beerdigungsprozession an ihr vorüberzieht. Ist das ein politischer Seitenblick?

Nein, eher ein filmischer. Denn hierbei wird an die Präsenz der Kamera erinnert. Normalerweise existiert die Kamera im Kino ja nicht, weil sonst die emotionale Verbindung zwischen der Figur und dem Zuschauer gestört würde. Das kann nämlich niemand leiden. Nur ist es so, dass man als Regisseur manchmal selbst verwirrt ist und damit ehrlich umgehen muss, indem man die Magie zwischen Figur und Publikum außer Kraft setzt. In diesem Sinne geht es eher darum, die stilistische Einheitlichkeit des Films aufzubrechen.

Sie heben stark hervor, dass es um Ranas Entscheidung gehe. In der westlichen Perspektive auf Frauen in einem islamischen Kontext ist meist das Gegenteil der Fall: Sie werden porträtiert als diejenigen, denen jede Entscheidungsfreiheit fehlt.

Ich glaube, dass Emanzipation – ob nun von Frauen oder Palästinensern – eine Frage der Entscheidung ist, und zwar eine, die die Betroffenen selber fällen. Man zahlt einen Preis dafür, aber es ist die eigene Entscheidung. Es ist unmöglich, diese Entscheidung – für oder gegen die Emanzipation – im Namen eines anderen zu treffen. Auf den ersten Blick mag es so aussehen, als hätten palästinensische Frauen weniger Möglichkeiten zu wählen. Aber ich glaube, es geht ihnen so wie Frauen anderswo auch. Im Westen zum Beispiel ist Teilhabe an der Gesellschaft doch auch an Voraussetzungen gebunden. Frauen sind gezwungen gut auszusehen, und das ist nicht unbedingt ihre eigene Entscheidung.

Vor einiger Zeit interviewte ich Eyal Sivan, einen israelischen Filmemacher, der in Paris lebt. Er hat mehrere Dokumentarfilme in palästinensischen Flüchtlingslagern gedreht und konnte dadurch die Position verlassen, die ihm qua seiner israelischen Herkunft zuzukommen scheint. Mit anderen Worten: Er konnte wenn nicht die Seite wechseln, so doch die andere Seite wahrnehmen. Was denken Sie: Ist es notwendig, der jeweils anderen Seite mit Empathie zu begegnen?

Auf jeden Fall. Es gibt keinen Platz für die Palästinenser, solange es keinen Platz für die Israelis gibt und umgekehrt. Und es ist unabdingbar, dass wir die Erzählung des Gegenübers anerkennen. Es gibt Palästinenser, die sagen: „Es ist nicht unsere Aufgabe, den Israelis dabei zu helfen, ihre Traumata und ihre Ängste zu überwinden; schließlich sind wir die Leidtragenden.“ Davon halte ich nichts. Wir müssen den Israelis helfen, ihre Traumata loszuwerden, und wir müssen ihre Ängste verstehen, die Angst davor, eine Minderheit in einer großen Gesellschaft zu sein, die Angst, alles zu verlieren, die Angst, von der Umgebung nicht anerkannt zu werden. Wir Palästinenser müssen diese Erzählung anerkennen, so wie die Israelis unsere Erzählung anerkennen müssen – und dass wir die gleichen Rechte haben wie sie.