Im Raunen der Geschichte

Welche Bilder kann man sich vom Unvorstellbaren machen? Atom Egoyans jüngster Film „Ararat“ erinnert den Genozid an den Armeniern und fragt zugleich nach der Bedingung dieser Erinnerung

VON ANDREAS BUSCHE

Die Filme Atom Egoyans erzählen von einer elementaren Abwesenheit. Die Figuren sind apathisch; dies ist der Modus operandi, mit dem Egoyan der Erfahrung des Verlusts zu einer Sprache verhilft. In „Ararat“, seinem jüngsten Film, geht es um eine Erfahrung, die sich der Beschreibbarkeit entzieht: um den „vergessenen Holocaust“, die systematische Vernichtung der Armenier durch türkische Truppen zwischen 1915 und 1918.

Zehn Jahre nach seinem Video-Essay „Calendar“ beschäftigt sich Egoyan also noch einmal mit seinem armenischen Erbe. Es ist ihm dabei genauso wichtig, den Genozid dem Vergessen zu entreißen – womit „Ararat“ in Egoyans von Verdrängung durchzogenem Gesamtwerk eine Schlüsselrolle zukommt – wie zugleich auch die Bedingung dieser Erinnerung zu untersuchen. Seine schmerzhafte Erkenntnis ist, wie sehr sich die Erinnerung durch historische Überlieferung und historische Verdrängung bis zum heutigen Tag verzerrt hat. Wie soll man vor diesem Hintergrund die Kinobilder finden, die das Unaussprechliche angemessen wiedergeben? Denn der Augenblick, in dem die Nachstellung historischer Ereignisse in den Bilderfluss einer historischen Erzählung umschlägt, ist auch der Augenblick, in dem die Stimmen der Opfer im Raunen der Geschichte unterzugehen drohen.

Egoyans Suche nach einem gültigen Zeitzeugnis führt ihn in „Ararat“ durch vier Generationen. Zwei nichtfiktive Biografien dienen ihm hierbei als verbindliche Quellen: die Geschichte des armenischen Malers Arshile Gorky, eines der wenigen Überlebenden des Massakers von Wan im Jahr 1915. Und die Memoiren des amerikanischen Arztes Clarence Ussher, der zur Zeit des Massakers in Wan stationiert war. Im Toronto der Gegenwart versucht der armenischstämmige Regisseur Edward Saroyan (Charles Aznavour), sich über diese beiden Biografien dem armenischen Trauma zu nähern. Er arbeitet an einem Film, der die Erlebnisse Usshers und die frühen Kindheitserinnerungen Gorkys zu einem epischen Drama verbinden wird. Das Kino soll seine Bildermaschine sein, um die Erfahrung beider erlebbar zu machen. Der Filmemacher Egoyan allerdings ist sich wohl bewusst, dass dies keinem Bild – schon gar nicht dem Kinobild – je gelingen kann.

Egoyan setzt dieser Form der Erinnerung ein anderes Bild entgegen und bringt damit die Instanz des Augenzeugen ins Spiel. Es handelt sich um Gorkys Gemälde „Mutter mit Kind“, eine Reproduktion der letzten Erinnerung an Gorkys Mutter, die auf der Flucht aus Wan starb. „Mit diesem Bild“, erklärt die Kunsthistorikerin Ani (Arsinée Khanjian), „hat Gorky seine Mutter vor dem Vergessen bewahrt. Er hat sie aus einem Haufen Leichen gezerrt und auf dem Podest des Lebens platziert.“ Das Andenken an die Opfer ist die wichtigste Aufgabe einer künstlerischen Auseinandersetzung mit Genoziden. Doch der Künstler errichtet sein Werk nolens volens auf Leichenbergen. Diesen unerträglichen Widerspruch spürt auch Ani, die von Saroyan als historische Beraterin für sein Historiendrama engagiert wurde. So unmittelbar ein Film Geschichte in Bildern wiedergeben kann, so abstrakt bleibt doch die Erfahrung des Zuschauers. Es ist der Fluch des Filmemachers: Im Kino wird Geschichte wieder nur zur Fiktion.

Ani dient als Bindeglied zwischen der Geschichte Gorkys und der Geschichte hunderttausender armenischstämmiger Immigranten. Als Kunsthistorikerin ist sie mit Gorkys Werk vertraut. Als gebürtige Armenierin kann sie auch die persönliche Tragik im Leben Gorkys nachempfinden. Gorky beging 1948 Selbstmord. Und eine Zeugenschaft wie die seine ist für Egoyan von entscheidender Bedeutung, denn er stellt sie in „Ararat“ einer rein abstrakten Erfahrung des Genozids gegenüber.

Für Anis Sohn Raffi (David Alpay) ist dieser Teil der armenischen Geschichte eine rein abstrakte Erfahrung. Seine einzige persönliche Verbindung zum Massaker ist der Tod seines Vaters, der von der Polizei erschossen wurde, als er ein Attentat auf einen türkischen Diplomaten verüben wollte. Raffi will sich mit der Unwissenheit nicht abfinden. Der Völkermord ist Teil seiner kulturellen Identität, aber als in Kanada geborener Armenier kann er den Schmerz nicht mehr nachempfinden. Hierin liegt die Problematik historischer Überlieferungen: Jeder folgenden Generation fällt es schwerer, sich überhaupt noch eine Vorstellung von dem Leiden zu machen. Und irgendwann werden die Bilder zerschundener Körper austauschbar.

Im zentralen Handlungsstück von „Ararat“, um das herum die verschiedenen Zeit- und Erzählebenen elliptisch angeordnet sind, kehrt Raffi mit Videoaufnahmen aus Armenien zurück, wo er, wie er seiner Freundin erzählt, den Ursprung von Gorkys Bild und damit seiner Geschichte gesucht hat. Am Flughafen wird er von einem Zollbeamten (Christopher Plummer) festgehalten, der in Raffis unentwickelten Filmdosen Drogen vermutet. Das Verhör entwickelt sich zu einem geschichtlichen Rekurs.

Geschichte zu erinnern und sie dadurch artikulierbar zu machen, ist die große Herausforderung, der Egoyan sich stellt. Und er hat es sich wahrlich nicht leicht gemacht. „Ararat“ verhandelt verschiedene Möglichkeiten – richtige und falsche – von Erinnerungswahrung und blendet sie rhetorisch ausgeklügelt ineinander. Bemerkenswert bleibt dabei, wie sehr sich Egoyan als Filmemacher gegen die Autorität des bewegten Bildes sträubt. Für ihn kann jedes reproduzierende Bild immer nur eine Instant-Erfahrung bleiben. Es ist die Stimme des Augenzeugen selbst, die nicht verstummen darf; historische Erinnerung aus erster Hand.

Leider traut Egoyan am Ende seiner Prämisse selbst nicht über den Weg. So sehr er Gorkys Bild und dessen Geschichte als gültige Instanz von Zeugenschaft etabliert, so wenig kann er sich der Verführung des Hollywood-Kinos, das heißt der dramatischen Simplifizierung, wie Saroyan sie betreibt, entziehen. Wenn Szenen aus Saroyans Film präsentiert werden, sieht man sich als Zuschauer doch noch Bildern eines Massakers ausgeliefert; ein Schock, nicht nur in seiner Schonungslosigkeit.

Egoyans Zweifel an der Darstellbarkeit von traumatischen Erinnerungen klingen jedoch nach. Sie erzählen von der Unmöglichkeit, sich vom Holocaust „ein Bild zu machen“.