Tugend ohne Gott

Wer Sturm sät, wird Flaute ernten: In der Bremer Friedenskirche feierte Johann Kresniks vermeintliches Skandalstück „Die Zehn Gebote“ Premiere

VON BENNO SCHIRRMEISTER

Ein Ortswechsel. Nicht Dom, sondern Friedenskirche als Spielstätte. Ein Hausverbot, ausgesprochen von der Gemeinde, nach empörter Boulevardberichterstattung von den Proben in Bremens Hauptkirche: Das ist, in groben Zügen der Skandal, der Johann Kresniks Produktion „Die Zehn Gebote“ mit vollen Segeln ins öffentliche Interesse geblasen hat. Am Donnerstag war Premiere, unter Polizeischutz und von einer bibelfesten Mahnwache begleitet. Doch die Sonderbewachung kann abbestellt werden: Eine Fortsetzung des Sturms ist nicht zu erwarten.

Dass nach der Premiere niemand so recht aus dem Gotteshäuschen geraten mochte, liegt zum Teil am Ortswechsel. Nicht Dom, sondern Friedenskirche – das bedeutet einen Umzug in unvorteilhafte Neugotik. Die nüchtern weiß gekalkten Wände dimmen auch jene Bilder auf gemeindesaalgeeignete Erbauungsgymnastik herab, denen die Wahl- und Wunschspielstätte wohl mystisch-erhabene Schauder hätte entlocken können.

Beispielsweise der plakative Anfang: Es verdunkelt sich, bläuliche Schimmer, gregorianisches Gemurmel, übertönt von donnernden Klavierschlägen. Darauf folgt eine ins Tympanon gebeamte Videosequenz: Die gefilmte Flucht Günther Kaufmanns per Kleinwagen durch stillgelegte Hafengebiete sehr weit in der Stadt endet mit der Explosion des Vehikels. Die Flammen schlagen in den Altarraum – wo der Schauspieler realiter in schwarzer Unterwäsche auf einem Podest liegt. Ein Lichtkegel erfasst ihn, er setzt sich, lässt die Beine baumeln. Seine linke Schulter ist von einer klebrig-roten Schicht überzogen. Und das soll keine Erdbeermarmelade sein.

Es gibt eindringlichere Bilder – etwa jenes, in dem sich Kaufmann, in drei Meter Höhe, auf einem Sessel flegelt, die Augen geschlossen, während ihm zwei Sängerinnen weiße und blaue Schminke applizieren, die Trikolore als Kriegsbemalung. Plötzlich fällt das Leinentuch von dem Gerüst: Unter dem Thron hängt das ganze übrige Ensemble, wie Fleisch im Kühlhaus. Eingängig auch: die so heftig wie kenntnisarm attackierten nackerten ältlichen Damen, die wie besessen ihre Nähmaschinen traktieren. Sie werden als stimmiges Symbol der Ausbeutung mitten in den Raum gefahren. Sie schneidern – auf Kresnik ist Verlass – an einer Deutschlandfahne.

Bis zu diesem Punkt ist noch alles gut. Dann aber beginnt Kaufmann zu sprechen. Nein, seine Präsenz hat keineswegs unter der haftbedingten Schlankheitskur gelitten. Ganz im Gegenteil, Kaufmann ist brillant. Sein herrlich in den Klang der eigenen Stimme verliebtes, murmelnd-beiläufiges, aber doch scharf artikuliertes Parlando, die entspannte Müdheit seiner Mimik, die hell aufblitzenden Momenten gefährlicher Wachheit als Resonanzraum dient – das ist ein Erlebnis. Ein lange vergeudetes Talent besinnt sich auf sich selbst.

Und vergeudet sich doch erneut: Denn was er da so gefühlsecht vorträgt, lohnt die Mühe nicht. Es ist eine Blüten- und Stilblütensammlung verschiedenster Dramatiker – Fassbinder, Koltès, Müller, die üblichen Verdächtigen – gepaart mit den gängigen Zeitdokumenten – George-Bush-Rede plus Mohammed-Atta-Brief und, ach du meine Güte: Meinhof – verteilt auf teutonische Trivialtypologien: Richterin, Pfarrerin, Mädchen, Nutte, Diva, Metzger, Müllmann, Polizist, Soldat. Die schlechte, schlechte Gesellschaft.

Die Rolle des Fremden, des ungebetenen Gastes, an dem sich, in Nachfolge Pier Paolo Pasolinis, die Wertediskussion entzündet, habe er für Kaufmann entworfen, lässt der zum Textbuchkompilatör – vulgo: Librettisten – erkorene Dramaturg Christoph Klimke im Programmheft wissen. Das also sind „Die Zehn Gebote“: Eine von guten Vorsätzen strotzende, matte Montage, die eher dem Titel „Das Säuglingsnahrungswerbegesetz“ oder „Die Tierschutznutztierhaltungsverordnung“ gerecht würde: Die angestrebte kritische Grundsätzlichkeit wird darin allenfalls ein aufgewühlter Konfirmand entdecken. Dort jedoch, wo sie in den Bildern Kresniks aufglänzt, fährt das quasselnde Libretto dazwischen und verrät allen Zauber, alle Religion, wenn man so will: Hier ist Reden Silber. Und Gott schweigt.