Die Freiheit, die in der Unterwerfung liegt

Vor vierzig Jahren verfasste der ägyptische Denker Sayyid Qutb „Meilensteine“, eines der philosophischen Urdokumente des islamistischen Terrorismus. Seine Doktrin überrascht durch das antiautoritäre Freiheitspathos, mit der sie sich als Alternative zu Kommerz, Götzendienst und innerer Leere präsentiert

VON ROBERT MISIK

Der radikale Islamismus von heute ist keine Chose weltfremder, frömmlerischer Mullahs, wie er häufig immer noch allzu leichthändig gedeutet wird, sondern ein durchwegs modernes Phänomen. Vor genau vierzig Jahren ist einer der kanonischen Texte erschienen, auf denen er sich gründet. Er stammt aus der Feder des ägyptischen Intellektuellen Sayyid Qutb, der hierzulande bislang weitgehend unbekannt geblieben ist. Zu Unrecht: Denn sein Pamphlet „Meilensteine“ dürfte für den islamischen Fundamentalismus in etwa das darstellen, was das Manifest von Karl Marx einst für den Kommunismus bedeutete.

Sayyid Qutb selbst war eine irritierende Figur. 1906 in einem kleinen Dorf am Nil in eine wohlhabende und sehr weltlich orientierte Familie hineingeboren, entwickelte er sich zu einem der einflussreichsten islamischen Denker des 20. Jahrhunderts. Mit zehn Jahren kannte er den Koran bereits auswendig – und zwar, wie er in seinen Kindheitserinnerungen schreibt, weil er als Schüler der staatlichen Grundschule die Überlegenheit seiner modernen Ausbildungsstätte gegenüber der traditionellen Koranschule beweisen wollte. Später studierte er in Kairo und bringt es als Schriftsteller, Poet und Literaturkritiker schnell zu Renommee. Er wird Lehrer und Beamter im ägyptischen Erziehungsministerium. Er steht mit beiden Beinen fest im Lager der säkularen Moderne.

Ende der Vierzigerjahre schickt ihn die ägyptische Regierung auf einen dreijährigen Studienaufenthalt in die USA. Er tut sich auf Universitäten, in Jazzclubs und in Kirchen um. Irgendetwas Grundlegendes muss in ihm in dieser Zeit vorgegangen sein: ein tiefer Kulturschock oder eine demütigende Enttäuschung angesichts der amerikanischen Moderne, die einen radikalen Sinneswandel einleitete. Aus den USA kommt Sayyid Qutb Anfang der Fünfzigerjahre jedenfalls voller Abscheu auf den Westen zurück. Er schließt sich der politischen Bewegung der Muslimbrüder an und wird gewissermaßen ihr Chefideologe.

Nachdem in den Fünfzigerjahren das temporäre Zweckbündnis zwischen dem ägyptischen Prädidenten Nasser, der geschickt zwischen panarabischer Rhetorik, einem säkularen Nationalismus und sozialistischen Positionen balanciert, und der Bewegung der Muslimbrüder zerbricht, wird auch Sayyid Qutb mehrmals ins Gefängnis geworfen. Frei sollte er daraufhin immer nur für ein paar Monate kommen. Unter dem Eindruck von Haft und Folterung radikalisieren sich seine Schriften. Zu sehr für seine Zeit: 1966 lässt Nasser ihn nach kurzem, unfairem Prozess hängen.

Die Jahre im Gefängnis bilden Qutbs produktivste Zeit. Hier verfasst er seinen umfassenden Koran-Kommentar „Im Schatten des Korans“, dessen englische Übersetzung acht Bände zählt. Und er schreibt „Meilensteine“, den wohl einflussreichsten Text des radikalen Islamismus, der auch auf vielen moderat-muslimischen Homepages zu finden ist.

Für Paul Berman, einen der wichtigsten liberalen Publizisten der USA, ist Qutb deswegen schlicht „der Philosoph des islamischen Terrors“. Seine Koran-Interpretation „Im Schatten des Korans“, über einen Zeitraum von gut 15 Jahren entstanden, sei eines der „beachtlichsten Produkte an Gefängnisliteratur, das jemals produziert wurde“, so Berman. In diesem „Meisterwerk“ wird, fein ziseliert und über viele tausend Seiten hinweg, eine theologische Kritik der Gegenwart entwickelt, die aus der Lektüre des Korans heraus die Perspektive eines „echten Lebens“ eröffnet, frei von Materialismus und Götzendienst. Eine Art neuer Mensch wird hier entworfen, tugendhaft und nicht entfremdet, der niemandem mehr untersteht: keinem Staat und keinem Klerus, nur Gott.

In den „Meilensteinen“ von 1964, entstanden zwei Jahre vor seinem gewaltsamen Tod, wird die Kritik dann artikulierter. Die gesamte gegenwärtige Welt, in Ost wie in West, nennt Sayyid Qutb schlicht Jahiliyya: ein Ausdruck, der im offiziellen religiösen Diskurs eigentlich die vorislamische Zeit bezeichnet, die nach koranischer Lesart von Dekadenz und Vielgötterei geprägt gewesen sein soll. Nach Qutb ist jede Gesellschaft „jahili“, so das Adjektiv, die sich nicht unter die Herrschaft Gottes begibt. Im Prinzip ist „jede Gesellschaft, die heute existiert, jahilisch“. Auch jene Gesellschaften in der islamischen Welt mithin, die von nominell muslimischen Herrschern regiert werden, aber nicht den islamischen Gesetzen folgt.

Es ist eine Welt, in der Qutb nichts als Dekadenz und „moralische Degeneration der Gesellschaft“ erkennt. Er klingt dabei nicht besonders bigott, sondern analysiert vielmehr den Mangel an menschlicher Würde und an Respekt der Menschen voreinander. Wenn er über das moderne Leben schreibt, dass „alle menschlichen Werte auf dem Altar der materiellen Produktion geopfert werden“, dann beschreibt er ein Unbehagen, das viele klar denkende Menschen in der modernen Welt teilen.

Die Gründe für die Malaise sind laut Qutb in frühen wie in heutigen Tagen dieselben: „die Begierden“ der Menschen und dass sie „sich selbst am wichtigsten nehmen“. Die Menschen werden „vulgär“, der Kapitalismus mit seiner „materialistischen Attitüde (…) tötet allen Geist ab“.

Der Islam mit seiner radikalen Beziehung zum einen, alleinigen Gott ist aus solcher Perspektive das Gegengift zu Vielgötterei, zu Götzendienst, zur Unterwerfung – sei es unter die Gebote des Kommerzes oder die Herrschaft von Tyrannen. „Es gibt keinen Gott außer Allah und Mohammed ist sein Prophet“, lautet seine Schlüsselformel. Der Islam, so verstanden, ist eine Lebensart, ein Way of Life: die einzige Weise, in der der Mensch frei werden kann, weil er nur in der wahrhaft islamischen Gesellschaft niemand anderem dient als Gott. Bis heute versuchen sich islamische Fundamentalisten daher, mit einigem Erfolg, als die globale antimaterialistische Kraft schlechthin zu präsentieren.

Manche Beobachter haben deshalb den extremistischen Islamismus, auch wenn er in der Praxis die Unterwerfung unter religiöse Führer und die Scharia fordert, mit den Worten „Anarcho-Islamismus“ zu charakterisieren versucht. Erstaunlich, aber wahr, denn die Lehre Qutbs tritt mit einem großen Freiheitspathos zutage. Der Begriff der Freiheit ist ihr zentral: die Freiheit von der Unterwerfung unter die Gesetze Pharaos (womit jeder weltliche Herrscher gemeint ist). Unterwerfung unter die Scharia ist Freiheit, denn die Scharia kommt von Gott. Unterwerfung unter weltliche Gesetze, und seien sie von frei gewählten Parlamenten beschlossen, ist Unfreiheit, denn diese Gesetze wurden von Menschen gemacht. Indem er sich Gott unterstellt, wirft der Mensch die Ketten weltlicher Knechtschaft ab.

Um das Reich der Jahiliyya zu zerstören und eine islamische Gesellschaft zu errichten, müssen die Gläubigen zum Vorbild der „einzigartigen koranischen Generation“ zurückkehren, der Gemeinschaft Mohammeds. „Unser Ziel ist es, erst uns zu ändern und dann die Gesellschaft.“ Zu diesem Zweck muss zunächst eine Avantgarde entstehen: eine „aktive, harmonische, kooperative Gruppe“, die in ihren Gesellschaften für den Islam kämpft. Und die versucht, den Islam – „die einzig zivilisierte Gesellschaft“ – über den Erdball zu verbreiten. „Das Leben, das ihr lebt, ist niedrig“, werde man den Ungläubigen zurufen, im Orient wie im Okzident. Und man werde sie, wenn sie sich der Sache Gottes entgegenstellen, bekämpfen, so Qutb. Denn der Islam ist eine „universelle Freiheitserklärung“ und darum eine Herausforderung für all jene Gesellschaften, in denen Menschen die göttlichen Attribute usurpiert haben. Die Muslime haben den Dschihad zu führen, und zwar nicht nur defensiv, sondern auch offensiv. Wie der Koran befiehlt: „Kämpft gegen die Freunde Satans.“

Qutb ist damit der Begründer des modernen radikalen Islamismus und bis heute sein einflussreichster Vordenker. Wenn man Qutbs Schriften liest – die ruhige Eindringlichkeit seiner theologischen Studien, die Vehemenz, mit der er seine Lehre von der politisch-aktivistischen Religiosität verficht –, dann bekommt man eine Ahnung davon, was radikale junge Muslime daran fasziniert: die Art, mit der ein „echtes Leben“ gegen das verdorbene, niedrige Leben der kapitalistischen Moderne in Stellung gebracht wird. Eine Art, die mit abendländischen Spielarten des Nihilismus verwandt ist. Die Bilder eines eminenten Befreiungsaktes, die er wachruft. Der heroische Aktivismus einer islamischen Avantgarde, die er beschwört und die bei Kennern leninistischer Rhetorik gewiss Erinnerungen wachruft.

Die Verachtung, die er dem frömmlerischen Konservativismus gemäßigter Muslime gegenüber hegt, die mahnen, man müsse sich an die Gesetze halten und der Dschihad diene nur zur Verteidigung. Da kann man sich leicht ausmalen, wie eine radikale Jugend mit diesem Vokabular Konflikte mit ihrer Elterngeneration austrägt. Das Gefühl einer spirituellen Leere, die Gewissheit, dass das „echte Leben“ woanders ist, die Sehnsucht nach einem großen Moment der Reinigung: Sie begründen die Anziehungskraft des radikalen Islamismus.

Natürlich steht Qutb nur für eine Spielart des Islamismus. Die ultrakonservative Innerlichkeit der Wahhabiten in Saudi-Arabien ist eine zweite; die „islamische Revolution“ im Iran hat eine eigene Geschichte, und der türkische Islamismus, der sich gegen die säkulare Militanz des Kemalismus richtet, stellt wieder eine andere Traditionslinie dar. Und gewiss stellt Qutbs radikal antiautoritärer Islamismus, der weder die Autorität weltlicher noch die einer traditionell-religiösen Führerschaft akzeptiert, innerhalb der Geistesgeschichte des Islam eine Art Häresie dar.

Aber alle Spielarten des islamischen Fundamentalismus speisen sich aus demselben Unbehagen: aus dem Gefühl einer seltsamen islamischen Größe und Moral, die mit der Realität, der Rückständigkeit und Abhängigkeit der islamischen Gesellschaften nur schwer in Einklang zu bringen ist. Ihre Gedanken haben, auch wenn die militanten Dschihad-Gruppen isoliert bleiben, eine Streuwirkung über den engen Kreis der Fundamentalisten hinaus. Und sie zeichnen sich durch eine antijüdische Militanz aus, wie sie gerade in muslimischen Gesellschaften jahrhundertelang unbekannt war. Viel ist in diesem islamistischen Diskurs plötzlich von der „Heimtücke der Juden“, dem „verräterischen Volk“, die Rede.

Prinzipiell judenfeindliche Stellen finden sich schon im Koran. Dort heißt es in einer Sure sogar, die Juden stammen von Affen und Schweinen ab. Doch dies hat jahrhundertelang keine große Rolle gespielt im Verhältnis der Religionen. Erst im letzten Jahrhundert hat der moderne Islamismus die antijüdischen Traditionen revitalisiert und mit dem modernen Antisemitismus und Antizionismus vermengt. „Der erbitterte Krieg, den die Juden gegen den Islam angezettelt haben“, tobe seit 14 Jahrhunderten, behauptete Sayyid Qutb plötzlich. „Die Juden waren es, die die Polytheisten aufhetzten.“

Im islamistischen Diskurs werden die Juden als Volk mit sklavischem Charakter angesehen. Sie seien Speichellecker, wenn sie schwach, dafür aber brutal und arrogant, sobald sie mächtig sind. Nur wenige Muslime werden mit jedem einzelnen Argument von Leuten wie Qutb übereinstimmen. Aber viele dürften wohl einige seiner Schlüsse teilen und gewissermaßen den Klang der Argumentationsreihe eingängig finden.

Qutbs Buch „Meilensteine“ hat einen eigenen Ton, einen faszinierenden Rhythmus. Man sollte es lesen, um die Resonanzen zu verstehen, die es ausgelöst hat und immer noch auslöst.