Weltumspannend

„Unsere Art zu leben“: Globalisierung, Inzest, Psychoanalyse, Ehedramen und selbst das europäische Mahnmal für Juden auf dem 4. Festival Internationaler Neuer Dramatik der Berliner Schaubühne

Die deutschsprachigen Autoren zeigen eine Rückkehr zur kunstvollen Sprache

VON DOROTHEA MARCUS

Wie bringt man Globalisierung und Inzest, Psychoanalyse und das europäische Mahnmal für Juden, eheliche Eifersuchtsdramen und groteske Kasernenhauskomik zusammen? Das „Festival Internationaler Neuer Dramatik“, jene zwar gut, fast ausschließlich von Fachkräften besuchte Theatermesse für neue Stücke an der Schaubühne, subsumiert sie kurzerhand unter dem Leitsatz „Unsere Art zu leben“. Nicht sehr aussagekräftig, so ein Motto, aber letztlich doch ein Glück. Denn glücklicherweise sind die Zeiten vorbei, in denen neue Dramen vor allem vermeintliches Unterschichtselend und berufsjugendliche Fäkalsprache zur Bühnentauglichkeit erhoben wurden.

„F.I.N.D.“ an der Schaubühne dagegen will diesmal die Weltumspannung. Nur das Stück „Rabbit“ des Australiers Brendall Cowen wirkt noch wie ein Rückfall in die vergangene Zeiten (und führt vor, wie gründlich sich schmuddelige Sex- und Drogenposen überlebt haben.) Erzählt wird der Niedergang einer Familie, der kein Klischee auslässt: Tochter und Freund fixen und ficken, müssen sich aber noch über die Reihenfolge einigen. Der Übervater ist ein berühmter Journalist, heißt sprechend „Cave“ und ist so grausam, dass er seinem namenlosen „Fahrer“ keine letzte Stunde beim sterbenden Baby vergönnt. Die hysterische Mutter ist Alkoholikerin, will zum Abendbrot das Kaninchen töten, verführt dann aber doch lieber den Freund der Tochter, während der Vater eigentlich erzählen möchte, dass er Prostatakrebs im Endstadium hat und sich dabei ständig in die geöffnete Hose greift – Jammergestalten, ebenso unsympathisch wie unglaubwürdig.

Es ist natürlich nicht ganz fair, mit dem Ärgerlichsten zu beginnen, da das vierte „F.I.N.D.“ doch ein recht guter Jahrgang ist, trotz des geringeren Schaubühnen-Budgets. Zwar besteht auch „Die Dummheit“ des Argentiniers Rafael Spregelburd zu weiten Strecken aus unverdichteter Fernsehspielbeliebigkeit, ausgedehnten Monologen über Kunst, mathematische Formeln und vor allem über die banalen Wechselfälle im Leben einer dauerplappernden Hausfrau. Das erschöpft seine Komik zwar bald, spiegelt aber doch formal wider, was es inhaltlich will: eine Darstellung der Dummheit in ihren mannigfaltigen Ausprägungen.

Immer stärker wird so aus dem Sprachrauschen ein weltumspannendes Kaleidoskop der ersten Todsünde, jener unausrottbaren Geißel der Menschheit, von der wir alle so kräftig geschlagen sind. Ein intelligent gebautes Stück, inszenierbar mit minimalen Mitteln: Die 24 handelnden Personen verschmelzen zu fünf Schauspielern, verschiedene Motelzimmer in Las Vegas zu einer einzigen Bühne. Dort treffen sich zwielichtige Kunsthändler vor einem großen Geschäft, korrupte Polizisten, mafiöse Musikproduzenten, ein erfolgloser Schauspieler mit seiner geistig behinderten Schwester – und ein verarmter Mathematiker, der die Formel für das Erkennen der Zukunft auf eine Kassette gesprochen hat. Immer stärker verweben sich die Szenen zu einem groß angelegten Handlungsbogen, der eher wie das Drehbuch zu einem Episodenfilm wirkt und dabei nie die Doppelebene des Metaphorischen verliert und doch immer auch im genau beobachteten Kleinen bleibt.

Trotzdem sind es vor allem die deutschsprachigen Autoren, die an der Schaubühne eine Rückkehr zur kunstvollen Sprache zeigen, die sehr erholsam ist, wenn man das seifige Geschnatter von well made plays nicht mehr hören kann. Niemand kann sie so gut persiflieren wie David Gieselmann. „Champignol wider Willen nach Feydeau“ ist ein Auftragsstück der Schaubühne und ein grelles Feuerwerk der Pointen, ein aufgedrehter Reigen aus wild gewordenen Karnevalsfiguren, die alle Klischees von Boulevard-Theater auf die Spitze treiben. Die simple Verwechslungskomödie um den von seiner Frau Adele gehörnten Maler Champignol ist wortwitzig und rasend schnell geschrieben, manchmal verwandeln sich die Worte unversehens in dadaistisches Silbengestammel, kombiniert mit lieblichen französischen Chansons.

Dagegen wirkt Marius von Mayenburgs neues Stück „Eldorado“ wie ein biederes Familiendrama, in der ein Mann seine Arbeit verliert, seiner Frau nichts erzählt und sich darüber letztlich umbringt. Dazu gesellt sich eine zynische, reiche Mutter mit jugendlichem Liebhaber und eine gescheiterte Pianistin, zusammen sind sie Wohlstandsbürger in einer letzten Wohlstandsenklave und unterschwellig bedroht von einer Terrorkulisse, die allerdings recht angeklebt wirkt, gefasst in eine kunstvoll verschönte, aber auch etwas manierierte Sprache. Bis zur Übelkeit manieriert ist auch der Mahnmal-Monolog von Franz Xaver Kroetz, der sich liest wie eine Reflexion auf Martin Hohmann und die Antisemitismus-Debatte, wäre er nicht bereits im Juni 2001 fertig gewesen.

Doch wo sind eigentlich die Geschichten, die sprachlich bearbeitet über sich selbst hinausweisen und doch nicht zynisch sind? Weil man sich so nach ihnen sehnt, überrascht und berührt in der Schaubühne eine ganz unbekannte Autorin, die erst 20-jährige Österreicherin Gerhild Steinbuch, Siegerin des ausgeschriebenen Schaubühnen-Stückewettbewerbs, mit „Kopftot. Ein Fluchtversuch“. Nicht schon wieder Inzest, möchte man abwinken. Doch gleichzeitig ist das eine tief berührende Studie über Liebe und Macht, Abhängigkeit und die Freiheit der Fantasie, das sich weder im privaten Beziehungsdrama verliert noch moralisch wird.

Ein junges Mädchen, Ophelia, einsam, eingesperrt und missbraucht von ihrem Vater, erfindet sich Mutter und Bruder, die sich auf der Bühne in Menschen verwandeln. Die Sätze könnten nicht einfacher sein und bilden doch schockartige Kombinationen. „Allein lebender Mann riecht nach Frau, das geht doch nicht“, sagt der vergewaltigende Vater. „Aber ich habe doch das Fenster aufgemacht“, die eilfertige Tochter. Judith Engel liest sie großartig, durchlässig und intensiv, blass und zitternd. Erstaunlich, wie fein die Autorin Verästelungen im Seelenleben eines malträtierten Mädchens erfasst und ihr Entkommen in einer Fantasiewelt trotzdem hoffnungsvoll erscheinen lässt. Ständig will sie der fiktive Bruder zum Weggehen ermuntern, angst- und hoffnungsvoll beharrt Ophelia auf ihrem Bleiben, damit sich der Vater aufs Neue in sie „verlieben“ kann. Ein märchenhaftes, intensives und berührendes Stück.

Befremdlich, danach einen Blick ins Nebengebäude zu werfen, wo unermüdlich die Welt verbessert wird: in der Dauerperformance von Goksoyr & Martens „Bed.Peace“ wälzen sich Schröder, Blair und Bush als Plastikpuppen im öffentlichen Lotterbett, versponnen in den klebrigen Wollfäden des Welthandels.

Eigenartig auch, danach selbst zum Analytiker in eine Therapiestunde von Michel Didym und zwanzig deutschen und französischen Autoren zu begeben, einzeln bedrängt von verzweifelten Schauspielerpatienten, die wie auf einem Beichtstuhl mit ihren fiktiven Obsessionen kokettieren und vorführen, wie restlos sich die Welt in ein mediales Rollenspiel verwandelt hat. Für zwanzigjährige Dramatikerhoffnungen scheint das allerdings noch nicht zu gelten.