Wo die guten Klone wohnen

Das Kino kommt ohne Wesen aus dem Schattenreich nicht aus. Es erfindet sich beständig neu, aus dem Geiste – und den Geistern – des „Unheimlichen“. Auf einem Symposium in Bremen redeten Filmwissenschaftler über uralte Ängste sowie die Metamorphose der Monster im Zeitalter der Digitalisierung

VON DIETMAR KAMMERER

Ein Symposium über das „Unheimliche“ kommt nicht ohne eine Eisenbahn aus. Immerhin wollte Sigmund Freud sich gerade in seinem Schlafwagenabteil zur Ruhe legen, als er plötzlich vor einem „älteren Herrn im Schlafrock“ erschrak, der ihm „sehr gründlich missfiel“.

Es brauchte diesen Augenblick der Verwirrung, bevor der reisende Psychoanalytiker begriff, dass er lediglich seinem eigenen Spiegelbild gegenüberstand. „Das Unheimliche“ meint nicht erst seit dieser berühmt gewordenen Zugfahrt genau dies: dass das Eigene und das Fremde sich nicht länger unterscheiden lassen. Wer sich vor seinem eigenen Schatten fürchtet, wen der stille Verdacht beschleicht, die eigenen Eltern könnten Außerirdische sein oder die eigenen Hände einem fremden Willen gehorchen, der ist bereits mittendrin in den Schauern des Unheimlichen.

Um seine Doppelgänger zu treffen, brauchte es schon um 1900 keine Eisenbahntickets mehr. Ein Besuch im Kino reichte aus. Wenn das Licht im Saal ausgeht, treten auf der Leinwand die Schattenwesen ins Leben. Irmbert Schenk sieht in dieser „neuen medialen Qualität“, dem phänomenologischen Vorsprung, den das junge Medium Kino den alten romantischen Motivwelten von lebendig gewordenen Schatten, Automatenmenschen und Spukwesen voraushatte, die eigentliche Erklärung, warum sich schon in der frühesten Filmgeschichte „die Schreckensbilder des Doppelgängers, Schizoiden, Klons, Monsters, Halbwesens und künstlichen Menschen“ so zahlreich finden lassen.

Kein Wunder also, dass die Klassiker des frühen Kinos „Der Student von Prag“, „Dr. Caligari“ oder „Nosferatu“ heißen. Und kein Wunder, dass Regisseur Robert Wiene „Orlac’s Hände“ ausgerechnet mit einem Eisenbahnunfall einsetzen lässt. Der Titelheld verliert darin seine Hände, die durch die eines hingerichteten Mörders ersetzt werden. Fortan entwickelt der hypersensible Pianist einen Wahn: Die Hände könnten von ihm Besitz ergreifen, die Mordlust in ihnen wieder zur Untat drängen. Wiene, als Regisseur des „Caligari“ ohnehin ein Experte in Sachen dämonische Leinwand, ließ das Publikum bis zum überraschenden Schluss im Unklaren darüber, wo die Grenze zwischen Wirklichkeit und Fantastik in dieser Geschichte verläuft.

Conrad Veidt in der Rolle des Orlac stellte für die zeitgenössischen Filmkritiker eine Provokation dar, so der Filmhistoriker Klaus Kreimeier. Sie hatten einfach keine Kategorien, sein Spiel zu beschreiben. Die Differenz von Bühnen- und Kamerarealität zwang den Schauspieler, traditionell ausgebildet als Theatermime, zu radikalem Umdenken. Da er sich nicht länger darauf verlassen konnte, dass das Publikum die gleichen Kulissen sieht wie er, sich im gleichen Illusionsraum bewegt, musste er sein Spiel anpassen.

Für Veidt bedeutete das: die Filmkulissen so weit zu verinnerlichen, dass er sie vergessen und in ihnen „wie blind“ sich bewegen konnte. „Method acting“, avant la lettre. So ergibt sich für Kreimeier die unheimliche Wirkung des Veidt’schen Spiels aus den medialen Bedingungen des Kinos selbst: durch die „Kamerapräsenz“ eines Schauspielers, der als Erster wusste, dass er nicht mehr war als ein Schatten.

Als sein Doppelgänger hat die Welt des Unheimlichen das Kino stets begleitet. Manche Stoffe wurden immer wieder verfilmt. Frankenstein verbreitete zum ersten Mal 1910 seine Schrecken auf der Leinwand – und verschwand am Ende ausgerechnet in einem Spiegel. Die „Body Snatchers“ wurden bisher dreimal verfilmt, aber die Geschichte um Außerirdische, die die Körper von normalen Menschen ersetzen, hat von ihrer paranoiden Faszination nichts verloren.

Heutzutage scheint sich das Kino mit dem Unheimlichen arrangiert zu haben. Cyborgs, Geister oder Klone haben ihre Schrecken verloren und werden gar zu Rettern der Menschheit hochstilisiert. In Lynn Hershman Leesons „Teknolust“ bilden drei Klone und ihre Schöpferin eine traute Wohngemeinschaft, in der die Grenzen zwischen virtueller und materieller Welt fröhlich aufgehoben sind.

Schauder erzeugen solche Bilder keine mehr. Nach hundert Jahren „anderer“ Filmgeschichte wird sich das Kino in den digitalen Bildern höchstens selbst fremd. Der Schrecken hat sich verschoben: Nicht mehr, was die Bilder zeigen, sondern wie sie hergestellt wurden, sorgt bei manchen für die größten Ängste und Nöte. Wie wird das Kino im Zeitalter der Digitalisierung aussehen? Wird man es in zwanzig Jahren noch erkennen? Geht uns die Wirklichkeit darüber verloren, brauchen wir gar „Gesetze“ gegen die digitalen Bilder, wie „Technikexperte“ Rolf Giesen andeutete?

Dass solche paranoiden Szenarien völlig fehl am Platz sind, machte der Vortrag von Winfried Pauleit deutlich. Auch das Digitale hat seine Biografie, weiß der Bremer Filmwissenschaftler, und Zelluloid wurde nie stärker fetischisiert als seit der Ankunft des Computers in der Filmproduktion. „Teknolust“ nennt Pauleit ein Beispiel für eine „Hybridisierung“ des Films, in dem nicht nur die Charaktere materielle und virtuelle Mischwesen sind, sondern die Erzählweise selbst sich von narrativen Zwängen emanzipiert hat.

Die digitalen Bilder beinhalten insofern ein Versprechen: eine „Politik des Zuschauers“, eine Ermächtigung in der Rezeption der Filme.