Das Amt, das Lächeln lernte

Im Jahr vor Florian Gerster hieß es auf den Arbeitsämtern: Nummer ziehen und warten. Heute, nach Gerster und der Reform, warten andere: die Sachbearbeiter. Und zwar auf dich. Ein persönlicher Erfahrungsbericht

VON THORSTEN DENKLER

Sie lächelt, und sie meint mich. Arbeitsamt Berlin-Mitte. Es ist Januar, Montagmorgen, 8.30 Uhr und Monatsanfang. Ich bin arbeitslos. Seit Freitag. Melde mich pflichtgemäß. Mitgebracht habe ich meine gesamte behördliche Existenz: Arbeitsbescheinigung, Personalausweis, Geburtsurkunde meines Kindes, Lohnsteuerkarte, Arbeitsvertrag, einen ausgefüllten Antrag auf Arbeitslosengeld, Aufhebungsbescheid einer früheren Arbeitslosigkeit und Zeit. Viel Zeit. In der Tasche: eine Tupperbox mit Wurstbrot, einen Apfel, ein Buch (398 Seiten), zwei Zeitungen. Der Tag kann kommen.

Zuvor habe ich von zu Hause noch schnell angerufen. Das Arbeitsamt Berlin hat eine neue Nummer: fünfmal die Fünf. Es war sofort jemand am Apparat, eine freundliche Frauenstimme, die mich zuvorkommend darauf hinwies, dass mein zuständiges Arbeitsamt in die Charlottenstraße umgezogen sei.

Das kann nur besser sein. Ich denke an den alten Bau. Meterdicke Mauern, die Sandsteinfassade fast schwarz vom Dreck der Stadt. Einen ganzen Straßenzug zog sich dieser Koloss von Amt die Lindenstraße in Berlin-Kreuzberg entlang. Ein Gefängnis wäre hier besser untergebracht gewesen. Aber vielleicht war das Absicht. Damals, im Februar 2001, habe ich viel gelernt über mich. Vor allem, dass ich von Amts wegen nicht immer das bin, was ich zu sein glaube.

Ich war frisch ausgebildeter, aber jobloser Zeitungsredakteur, dachte ich. Falsch. Vor dem Arbeitsamt war ich Kaufmann oder Verwaltungsangestellter. Redakteure gab es nicht. Die Alternative wäre Akademiker gewesen. Aber der Abschluss fehlt. Also auf zu den Kaufmännischen. Was konnten die mir bieten? Einen Platz im Warteraum.

Heute lächelt sie und meint mich. „Was kann ich für Sie tun?“, fragt die Frau hinter dem Empfangs-Tresen. In den kaum zehn Minuten, die ich bisher gewartet hatte, las ich mehrfach das Schild, das über den Köpfen der Wartenden baumelt: „Kunden-Service“. Scherze, dachte ich, die machen Scherze. Aber nein, sie lächelt noch immer. Mit Kunde meinen die tatsächlich mich. „Ich muss mich arbeitslos melden“, antworte ich. „Gerne“, sagt sie, nimmt meinen Personalausweis, tippt etwas in ihren Computer. „Bitte setzen Sie sich, Sie werden gleich aufgerufen.“

Wieder ein Scherz: „Gleich aufgerufen“ – dass ich nicht lache. Der Warteraum, vor allem die hellblauen Drahtgeflechtstühle, wecken heimatliche Gefühle.

Im Frühjahr 2001, ein Jahr vor dem Amtsantritt Florian Gersters als Chef der Bundesanstalt für Arbeit, hieß es: erst Nummer ziehen, dann warten. Warten. Warten – warten. Es war voll. Wie heute. Nummernabgleich. Auf der Anzeigetafel 551, auf meinem Zettel 654. Nach fünfeinhalb Stunden auf hellblauen Drahtgeflechtstühlen dröhnte zum 103. Mal dieser leicht dissonante Dreitongong. Diesmal um meine Nummer anzukünden. Ich durfte eintreten. Zimmer 114. Ich lächelte, als ich die Tür öffnete, nicht ohne vorher höflich geklopft zu haben.

Mein Gegenüber bemerkte es nicht. Sah mich nicht mal an, als er mich aufforderte, mich zu setzen. Ich konnte nur vermuten, dass es jetzt um mich gehen würde. Einen Zettel sollte ich ausfüllen. Kreuzchen machen bei allen Arbeiten, die ich bereit wäre zu tun. Sekretär/in, Gartenarbeiten, Öffentlichkeitsarbeit. Ohne Kreuz kein Geld, gab sie mir zu verstehen. Der Zettel landete ganz hinten in meiner Akte. Dann die Ermahnung: Stadt nur verlassen, wenn Sachbearbeiter Erlaubnis erteilt, bei Zuwiderhandlung: Leistungskürzung. Das war deutlich.

Ich suche den Kasten mit den Abreißnummern, finde ihn nicht, frage nach: gibt es nicht mehr. Ich setze mich, eine Tür geht auf. „Herr Denkler, bitte.“ Nicht mal Zeit gehabt, das Zwei-Seiten-Formular zur Arbeitslosmeldung auszufüllen, geschweige denn, einen Gedanken an mein Wurstbrot zu verschwenden. Das Formular füllt Frau Graf* „gerne“ für mich aus, sagt sie. Auch sie lächelt, sieht mich an. Sie bearbeitet meine Arbeitslosmeldung, gleicht sie mit den Daten ab, die noch über mich gespeichert sind, prüft, ob meine Angaben plausibel sind. Das alles erklärt sie mir. Dabei habe ich nicht einmal danach gefragt.

Nach weniger als fünf Minuten sitze ich vor einer anderen Tür. Ich habe eine Mappe für meine Unterlagen bekommen. Auf einem Zettel stehen Berufsfelder, denen ich mich zuordnen soll. Redakteur für Politik, Gesellschaft, Sport, PR, Texter. Mich gibt es also doch, denke ich.

Wieder: „Herr Denkler, bitte.“ Diesmal ruft mich meine Arbeitsvermittlerin herein. Frau Schwab*, eine etwas dickliche Frau mit offen Augen und einem gewinnenden Lächeln, empfängt mich an der Tür zu ihrem Büro. „Setzen Sie sich doch.“ Sie fragt nach meiner Situation, was ich mir beruflich vorstellen kann, klärt über Ich-AG und Überbrückungsgeld auf und schickt mich dann – mit Bedauern darüber, dass sie nicht auch dies für mich tun kann – weiter zur Leistungsabteilung, die mir mein Arbeitslosengeld berechnen soll.

Im Jahr vor Gerster hatte ich meinen Sachbearbeiter seit der Arbeitslosmeldung nur noch einmal gesehen. Einen Arbeitsvermittler bekam ich überhaupt nicht zu Gesicht. Ich schrieb Bewerbungen, bekam Absagen, Einladungen zum Vorstellungsgespräch, endlich einen Job. Ich ging wieder zum Arbeitsamt, um mich abzumelden. Mein Sachbearbeiter sagte daraufhin: „Schön, wieder einen Menschen in Arbeit gebracht zu haben.“ Er sagte dies tatsächlich. Ohne aufzublicken. Und ich glaube, er meinte es ernst. Ein Jahr später flogen die gefälschten Vermittlungsstatistiken des Arbeitsamtes auf.

Kaum sitze ich nun wieder, werde ich genauso freundlich wie zuvor von einem jungen Mann aus der Leistungsabteilung empfangen, der alle Daten aufnimmt, die er braucht, um mein Arbeitslosengeld zu berechnen, der sich entschuldigt, dass er mir leider jetzt noch nicht sagen kann, wie viel es genau sein wird, der mir zum Schluss fest in die Augen sieht und dann einen Satz sagt, der mich mit dem Arbeitsamt versöhnt: „Bleibt die Frage, ob Sie noch weitere Fragen haben, die ich Ihnen beantworten darf.“ Dabei lächelt er. Und meint mich.

Der Autor hat jetzt mit Hilfe seiner Vermittlerin eine Ich-AG gegründet.* Alle Namen geändert