Vom Nutzen der Migration

Im 21. Jahrhundert brauchen die Einwanderer Europa. Aber auch Europa braucht die Einwanderer. Ein Plädoyer für einen offenen Kontinent Europa von Kofi Annan

Einwanderer dürfen nicht zu den Sündenböcken für alle sozialen Probleme gemacht werden

Eine der wichtigsten Prüfungen, der sich die wachsende Europäische Union in den nächsten Jahren und Jahrzehnten stellen muss, wird die Frage sein: Wie bestehen wir die Herausforderung der Zuwanderung? Wenn die europäischen Gesellschaften an dieser Aufgabe wachsen, wird die künftige Einwanderung sie bereichern und stärken. Wenn sie an ihr scheitern, werden sie einen Teil ihres Wohlstands einbüßen und unter sozialen Spannungen leiden.

Es besteht kein Zweifel: Die europäischen Gesellschaften brauchen Zuwanderung. Die Europäer leben immer länger und bekommen immer weniger Kinder. Derzeit leben 450 Millionen Menschen in den EU-Staaten und den Beitrittsländern. Ohne Zuwanderung wird die Bevölkerung bis zum Jahr 2050 auf unter 400 Millionen Menschen sinken.

Die EU steht mit dieser Entwicklung keineswegs allein da. Ähnlich sieht es etwa in Japan, Russland und Südkorea aus – auch dort können in Zukunft Arbeitsplätze nicht besetzt, Dienstleistungen nicht mehr erbracht werden; die Wirtschaft wird schrumpfen und die Gesellschaft stagnieren. Zuwanderung allein kann diese Probleme nicht lösen, aber sie kann wesentlich zur Lösung beitragen.

Wir können davon ausgehen, dass Menschen von anderen Kontinenten gerne nach Europa kommen wollen, um hier zu arbeiten und zu leben. In unserer ungerechten Welt fehlt schließlich vielen Asiaten oder Afrikanern jegliche Möglichkeit, sich weiterzuentwickeln. Die meisten Europäer hingegen nehmen das für sich geradezu selbstverständlich in Anspruch. Es ist nicht verwunderlich, dass weltweit viele Menschen Europa als einen Kontinent der unbegrenzten Möglichkeiten begreifen. Hierher möchten sie gelangen, um ein neues Leben zu beginnen. Sie folgen dabei dem Vorbild von Millionen verarmter, aber leistungsbereiter Europäer, die einst in die Neue Welt aufbrachen, weil sie dort ihre Chancen sahen.

Jedes Land hat das Recht, frei zu entscheiden, ob es Migranten aufnimmt. Dazu verpflichtet ist es nur, wenn es sich um Flüchtlinge handelt, die unter dem Schutz des Völkerrechts stehen. In jedem Fall wären die Europäer jedoch schlecht beraten, wenn sie ihre Tore verschließen. Das würde langfristig gesehen nicht nur ihre ökonomischen und sozialen Aussichten verschlechtern. Es würde auch immer mehr Menschen dazu zwingen, Schleichwege nach Europa zu suchen – indem sie etwa um politisches Asyl ersuchen und damit ein System überlasten, das Flüchtlingen helfen soll, die wirklich in ihren Herkunftsländern verfolgt werden. Andere wiederum sähen sich dazu genötigt, sich von Menschenhändlern auf verschlungenen und höchst gefährlichen Wegen nach Europa schmuggeln zu lassen, und riskierten dabei Leib und Leben.

Illegale Einwanderung ist ein ernstes Problem. Und die Staaten müssen intensiv zusammenarbeiten, um es zu lösen. Vor allem gilt es, die Schmugglerbanden und Menschenhändlerringe zu zerschlagen, die weltweit die Geschundenen ausbeuten und Recht und Gesetz mit Füßen treten. Doch: Die Bekämpfung illegaler Einwanderung sollte nur Teil einer breiter angelegten Strategie sein. Die Staaten müssten nachhaltig Regelungen für eine legale Einwanderung schaffen, und sie müssten versuchen, davon zu profitieren, während sie gleichzeitig die Menschenrechte der Migranten schützen.

Jedes Land hat das Recht, freizu entscheiden,ob es Migrantenaufnimmt

Bemerkenswert ist: Auch arme Länder profitieren von der Migration. So überwiesen Migranten allein im Jahre 2002 über 88 Milliarden Dollar in die Entwicklungsländer – das sind immerhin 54 Prozent mehr als die 57 Milliarden Dollar, die von den wohlhabenden Staaten als Entwicklungshilfe an diese Länder gezahlt werden. Von der Migration können daher letztlich alle Staaten profitieren.

Migration ist so alt wie die Menschheit und von nicht zu unterschätzender Bedeutung für die Zukunft. Es bedarf daher neben den nationalen Regelungen auch internationaler Übereinkünfte. Das setzt allerdings eine erheblich intensivere staatenübergreifende Zusammenarbeit voraus. Die im Dezember 2003 eingerichtete Kommission für internationale Migration (Global Commission on International Migration) kann dazu beitragen, internationale Normen und wirkungsvolle Maßnahmen zu formulieren, die die Migration im Sinne aller Betroffenen regeln. Hervorzuheben ist, dass bedeutende Persönlichkeiten aus Nord und Süd, Jan Karlsson aus Schweden und Mamphela Ramphele aus Südafrika, den Vorsitz der Kommission übernommen haben.

Um die Migration zu regeln, bedarf es jedoch mehr als des Öffnens der europäischen Tore und internationaler Übereinkommen. Die Staaten müssen auch mehr unternehmen, um die Einwanderer zu integrieren. Die Migranten sollten sich in ihre neue Gesellschaft einpassen – und diese wiederum sollte sich auf die Neuankömmlinge einstellen. Nur eine einfallsreiche Strategie zur Integration von Einwanderern kann dafür sorgen, dass die Migranten die Gesellschaft wirklich bereichern und nicht erschüttern.

Obwohl jeder Staat natürlich gemäß seiner Kultur und seinen Gegebenheiten die Zuwanderung gestalten wird, sollte man eines nicht unterschätzen: Die Millionen von Migranten, die schon in Europa leben, haben bereits jetzt einen außerordentlichen Anteil an der Entwicklung der hiesigen Gesellschaften. Viele von ihnen sind führende Politiker oder Wissenschaftler, Sportler oder Künstler geworden. Andere sind zwar nicht prominent, spielen aber eine bedeutende Rolle im Zusammenleben. Ohne sie würde manches Gesundheitssystem unter Personalnot leiden, hätten viele Bürger keine Haushaltshilfe, die ihnen erst den Freiraum für eine berufliche Karriere verschafft. Unbesetzt blieben zudem viele Arbeitsplätze, die öffentliche Dienstleistungen erbringen und Staatseinkünfte erzielen.

Die Mehrheit der Einwandererist arbeitsam, couragiert undzielstrebig

Anders gesagt: Einwanderer sind Teil der Lösung, nicht Teil des Problems. Sie dürfen nicht zu den Sündenböcken für alle möglichen sozialen Probleme gemacht werden. Dieser unwürdigen Tendenz sollten all jene entgegentreten, die Verantwortung für die Zukunft Europas tragen. Denn: Die Mehrheit der Einwanderer ist arbeitsam, couragiert und zielstrebig. Sie will nichts geschenkt bekommen – und sie will sich integrieren, ohne dabei jedoch ihre Identität aufzugeben.

Im 21. Jahrhundert brauchen die Einwanderer Europa. Aber auch Europa braucht die Einwanderer. Würde Europa zur Festung, würde es ein kleinlicheres und ärmeres, ein schwächeres und älteres Europa. Ein offenes Europa dagegen wird fairer und reicher, stärker und jünger sein. Die Voraussetzung dazu ist eine erfolgreiche Zuwanderungspolitik. KOFI ANNAN

Übersetzung aus dem Amerikanischen: Daniel Haufler