Republikanischer Rigorismus

Im Umgang mit dem Kopftuch ist Frankreich kein Vorbild – denn diskriminierten Minderheiten ist nicht mit Dresscodes zu begegnen, sondern mit kalter Toleranz

Das Kopftuch markiert ebenso wenig eine einheitliche weibliche Selbstdeutung wie Sandalen oder Bikinis

Die Debatte über den „islamistischen Schleier“ verschleiert mehr, als sie klärt – und das gilt für die französische wie die deutsche Diskussion. Allein die Geschichte des Kopftuchs zeigt, dass es dabei um mehr geht als um den Streit um ein Stück Stoff. In der Frühzeit des Islam, im siebten Jahrhundert, war der Schleier unter dem Namen djilhab nach der Darstellung des französischen Ethnologen Camille Lacoste-Dujardin das Erkennungszeichen freier muslimischer Frauen, die sich damit von den Sklavinnen abhoben.

In großen Teilen Nordafrikas, insbesondere in der Kabylei, woher die Mehrzahl der muslimischen Immigranten in Frankreich stammt, trugen die Frauen nie ein Kopftuch. In den algerischen Großstädten dagegen benützten viele Frauen farbige Kopftücher, die sie um den Kopf wickelten. Nach ihrer Auswanderung nach Frankreich hielten es die Frauen mit dem Kopftuch wie zuvor. Sie trugen keines oder ein buntes.

Das änderte sich erst in den 80er-Jahren. In der Folge der iranischen Revolution wurden nun unter dem neuen Namen hidjab (das, was verbirgt) auch dunkle einfarbige, auf eine bestimmte Weise um den Kopf gewickelte Tücher gebräuchlich. Dass sich dieses „islamistische“ Kopftuch zum politisch-religiösen Symbol und Bekenntnis zu einer fundamentalistischen Lesart des Islam verhärtete, hat in Frankreich weniger mit Religion zu tun als mit dem politischen Protest der Trägerinnen gegen die verweigerte Chancengleichheit und die gescheiterte Integration. Die Diskriminierung beginnt in den Schulen und setzt sich fort in den trostlosen Wohnbezirken der Vorstädte sowie bei den Aussichten auf eine berufliche Ausbildung und einen Arbeitsplatz.

Dass es unter den Kopftuchträgerinnen seit den 80er-Jahren immer auch solche gab und gibt, die damit eine Art Selbstausschließung im Namen einer religiös-fundamentalistisch verbrämten Ideologie betrieben oder von ihren Männern und Brüdern zum Tragen gezwungen wurden, ist wahrscheinlich, aber empirische Erkenntnisse darüber existieren nicht. Statt auf Fakten stützt sich die landläufige Leitartikelprosa dazu überall auf ein Gemisch aus Ignoranz, Angstmacherei und Chauvinismus. Das Herzstück dieser Prosa bildet in Frankreich die republikanische Vorstellung von „Laizismus“. Die Verpflichtung staatlicher Institutionen auf religiöse Neutralität gehört seit 1789 zum Staatszubehör nach den jahrhundertelangen Erfahrungen mit dem Bündnis von Thron und Altar. Seit 1905 gilt eine strikte Trennung von Kirche und Staat – insbesondere in den religiös neutralen, staatlichen Schulen. Dass kein Staat in Europa private religiöse Schulen, in denen die französische Elite ihre Kinder ausbilden lässt, mehr fördert als Frankreich, gehört zu den Heucheleien des zur Staatsreligion aufgestiegenen „Laizismus“.

Hier kommt die deutsche Debatte ins Spiel. Die Trennung von Kirche und Staat gehört zwar auch in der Bundesrepublik zur Grundausstattung (Art. 140 Grundgesetz), aber sie ist weniger konsequent konzipiert. So zieht der Staat für die anerkannten Religionen die Kirchensteuer ein. Als trügerisch erweist sich jedoch im Blick auf die französische Debatte die Vorstellung, deutsche Politik und deutsche Institutionen müssten nur kräftig auf Laizismus à la française setzen, um die Probleme zu meistern.

Mit diesem Trugbild im Kopf plädieren viele biedersinnig dafür, muslimischen Lehrerinnen das Tragen von Kopftüchern in den Schulen zu verbieten. Die Konsequenteren verlangen wenigstens, dem Lehrpersonal nicht nur das Tragen von Kopftüchern, sondern auch das von Kippas oder christlichen Kreuzen zu untersagen. In Frankreich ist dieses Verbot für Lehrerinnen und Lehrer eine „laizistische“ Selbstverständlichkeit. Präsident Jacques Chirac und sein Erziehungsminister Luc Ferry basteln an einem Gesetz, das auch Schülern das Tragen „offenkundiger religiöser Zeichen“ („signes religieux ostensibles“) verbietet, jedoch „normale, nicht überdimensionierte Kreuze“ erlaubt. Auf den Alltag, demnächst mit dem Millimetermaß Querbalken von christlichen Kreuzen an den Schülerhälsen auf ihre Dimension/Über-Dimension nachzumessen, freuen sich Lehrerinnen und Lehrer nicht besonders.

Aber ganz abgesehen von der Praktikabilität des Verbots stellt sich eine grundsätzliche Frage in Frankreich wie in Deutschland: Neutral und laizistisch müssen eine Institution wie die Schule sowie die dort vermittelten Lehrinhalte sein. Die Lehrinhalte kontrolliert die staatliche Schulaufsicht, und das Lehrpersonal ist selbstverständlich zu politischer und religiöser Zurückhaltung verpflichtet. Diese Neutralität im Namen von Laizismus auf die Kleiderordnung auszudehnen, schafft nicht mehr Neutralität, sondern nur mehr Konflikte. Die Kleiderordnung ist eine Privatsache, es sei denn, man will Lehrpersonal und Schülerschaft nach dem Vorbild von Polizei und Militär uniformieren.

Das Beispiel Frankreich belehrt darüber, was in multiethnischen und multireligiösen Gesellschaften passiert, wenn die Mehrheit auf die Idee kommt, mit einem forciert republikanisch-laizistischen Kurs „die Gesellschaft, die ein wenig wie ein Krieg aller gegen alle aussieht, zu pazifizieren“ (Régis Debray). Den Minderheiten wird dadurch bis zum Dresscode bedeutet, woran sie sich halten sollen – an die Bräuche und Gewohnheiten der Mehrheit. Damit schafft man weder Schulfrieden noch gesellschaftliche Integration, sondern gießt Öl ins Feuer. Das Kopftuch steht zuerst und vor allem für den Protest einer diskriminierten und an die Stadtränder ausgelagerten Minderheit – und nicht für „die Logik des Ghettos“, nach der sich Frauen mit dem Tuch vor männlicher Gewalt zu schützen versuchen, wie Dorothea Hahn meint (taz vom 13. 1. 2004). Es geht schlicht darum, die Ursachen von einer schon Jahrzehnte andauernden Diskriminierung und Chancenungleichheit zu beseitigen.

Statt auf Fakten stützt sich die landläufige Leitartikelprosa auf einGemisch aus Ignoranz und Chauvinismus

Gegenüber den sprachlichen, kulturellen und religiösen Gewohnheiten von Minderheiten – soweit diese nicht strafrechtlich Verbotenes wie die Zwangsverheiratung, Beschneidung von Mädchen etc. praktizieren – sollte die Mehrheitsgesellschaft nicht mit laizistischem oder republikanischen Rigorismus reagieren, sondern mit „kalter Toleranz“ (Fahrad Khosrokhavar) und einem Sensorium für „kulturelle Differenzen“ (Jürgen Habermas). Völlig überrissen ist die These von französischen Schauspielerinnen und Feministinnen, das Kopftuch repräsentiere die Unterdrückung von Frauen durch Männer und sonst nichts. Das Kopftuch markiert ebenso wenig eine einheitliche weibliche Selbstdeutung, Fremdzuschreibung oder Unterdrückung wie Lederhosen, Sandalen oder Bikinis. „Wegen der zahlreichen Bedeutungen des Kopftuchs sowohl für jene, die es tragen, wie für die Menschen in deren Umgebung“, riskiert jede Politik des Verbietens, „das Gegenteil dessen zu erreichen“ (Anthony Giddens), was sie anstrebt – eine Stärkung der religiös-politischen Fanatiker statt jener, die Andere und Fremde dulden.

RUDOLF WALTHER