Leben in der Puppenstube

Ach, wie herrlich war es, in den Plattenbauten im Ostberliner Neubaugebiet zu wohnen! Sie hatten nichts dem Zufall überlassen. Und wir saßen alle im selben Boot, die Unterschiede lagen im Detail

Zwischen den Häuserblocks bildeten sich Windkanäle, in denen wir fast abhoben

VON JOCHEN SCHMIDT

Als ich 1978 nach unserem Einzug ins Neubaugebiet Berlin-Buch zum ersten Mal allein aus dem Haus ging, fand ich nicht mehr zurück. Ich hatte mir die Hausnummer nicht gemerkt, und zwischen den weißen Blöcken gab es keine Wege, nur Trampelpfade durch Schlamm und Matsch. Als ich den richtigen Aufgang endlich fand, drückte ich den Klingelknopf, wusste aber nicht, dass man beim Brummen die Tür öffnen musste, so etwas hatte es im Altbau im Friedrichshain nicht gegeben.

Die nächsten Jahre lebte ich in einem Paradies der Symmetrie. Kinder lieben Wiederholungen, deshalb waren die Teletubbies auch so erfolgreich. Für mich war Buch ein Abenteuerspielplatz, weil wir jede Ecke kannten; selbst wenn neue Blöcke gebaut wurden, wussten wir schon, was uns erwartete. Es war klar, wo man sich beim Versteck am besten verbarg, unter einem der Balkons im ersten Stock, in einer Telefonzelle oder in einer der blauen Käseglocken aus Glasfiber, die auf den Spielplätzen standen.

Es war alles so praktisch, sie hatten nichts dem Zufall überlassen: Das Licht im Hausflur ging von selbst aus, an der Kaufhallenkasse wurden die Waren auf Laufbänder gelegt, in den Hochhäusern gab es Müllschlucker, wenn man im Winter im Schnee spielte, musste man nicht nach oben, um die Handschuhe zu trocknen, man konnte sie im Treppenhaus auf die Heizung legen, die Kinderwagenschräge im Treppenhaus konnte man als Rutsche benutzen, in manchen Aufgängen war sie noch aufgeraut, wir arbeiteten daran, sie nach und nach zu glätten. Durch den schmalen Spalt am Treppengeländer konnte man über fünf Stockwerke sehen, wer die Treppe hochkam, und versuchen, bis nach unten zu spucken. Und zu Silvester konnte man die Raketen von den Fahnenständern aus abschießen, die an jedem Balkon angebracht waren. Wir saßen alle im selben Boot, die Unterschiede lagen im Detail.

Je nachdem, ob man im Fünfgeschosser oder im „Elfer“ wohnte, hatte jede Familie etwas anderes aus dem gleichen Grundriss gemacht, schon der Geruch war nie der gleiche. Unsere Wohnung stach ziemlich heraus, die Schrankwand war eine Bücherwand. Niemand konnte verstehen, dass wir die Bücher nicht einfach zum A&V brachten und „für tausend Mark“ verhökerten. Und in der Essecke neben der Durchreiche hatten wir keinen Esstisch, sondern einen Fernsehsessel. Aber wir aßen ja auch nicht zusammen Abendbrot wie meine Freunde, die deshalb immer um sechs nach Hause mussten.

Es war herrlich, beim Kindergeburtstag eine dieser fremden Puppenstuben zu erforschen. Wo stand das Aquarium? Wo der Fernseher? Hatten sie Emailledeckel mit Zwiebelmuster für die Herdplatten? Hatten sie ein hölzernes Kochlöffelset? Ein bulgarisches Teeservice? Hing an der Klotür ein Plastepissmännchen? An der Wohnungstür aus Pappe ein Stück Holz mit eingebranntem „Hax’n abkrax’n“? Manche hatten sich für die Küche eine Schiebetür gebaut, bunte Fliegenvorhänge angebracht oder klimpernde Perlenstrippen. Je nach dem Berufsfeld des Hausherrn schmückten die Wohnzimmerwände afrikanische Waffen (vielleicht war er Arzt im sozialistischen Angola gewesen) oder russische Saiteninstrumente (weil er an der Moskauer Hochschule für Ökonomie studiert hatte). Oder die Hausherren waren Romantiker und hatten die ganze Wand mit einem Birkenwäldchen tapeziert.

Später wollte ich ins Zentrum von Berlin, in eine dieser verwinkelten, verquollenen Wohnungen mit knarrenden Dielen, die so hoch waren, dass man Zwischendecken einziehen konnte, wenn es nicht sogar Luken gab, über die man versteckte Bastelkammern erreichte. Hier konnten freie Gedanken gedeihen, hier traf man Menschen, die sich nicht gern beobachten ließen. Abenteurer wohnten nicht hinter Papptüren.

Inzwischen zieht es mich wieder zurück nach Buch, nicht nur, weil es so einen symbolträchtigen Namen hat. Ich erinnere mich an ein Wohngebiet, das, kaum, dass es stand, von der Natur zurückerobert wurde: Die Silberpappeln wuchsen so schnell, dass ihre Wurzeln den Asphalt sprengten. Die Büsche in den Vorgärten erreichten bald die Balkons im ersten Stock. Die Häuser waren auf Feldern gebaut, Mäuse kamen durch die Lüftungsschächte, oder sie kletterten in den Spalten zwischen den Plattenbauelementen die Wände hoch. Mit dem Kaufhallenmehl brachte man kleine, schwarze Käfer nach Hause, die in der Weihnachtszeit schlüpften und bis in die Baumkugeln krabbelten. In den warmen Kellergängen lebten ausgesetzte Katzen. In den Balkons nisteten sich hartnäckig Schwalben ein. Nach dem Urlaub fanden wir sogar ein Wespennest in einem hohlen Stein auf dem Fensterbrett. Mücken kamen in dichten Schwärmen, nicht nur durchs Fenster, auch durch die Ritzen in der Wohnungstür. Manchmal musste man sie mit dem Staubsauger bekämpfen. Wenn es regnete, überschwemmten die Straßen, weil die Gullys verstopften. Zwischen den Häuserblöcken bildeten sich Windkanäle, in denen wir mit unseren Anoraks fast abhoben.

Und immer bei Westwind roch es intensiv nach den Bucher Rieselfeldern. Alles, was Berlin durchs Klo schickte, landete bei uns. Wir liefen laut singend über die Spielplätze, von den Häuserwänden, die uns umgaben wie Bergmassive, hallte das Echo unserer Stimmen: „Das ist die Berliner Luft, Luft, Luft! Aus der Hose kommt der Duft, Duft, Duft!“

Der Autor lebt als Schriftsteller meistens in Berlin. Zuletzt erschien sein Buch „Seine größten Erfolge“ im Piper Verlag