Ich liebe Liebe zu dritt

Fisting unter Freunden: Adam Thirlwell erzählt in seinem Debüt „Strategie“ von der Ausweitungder Kuschelzone. Alle geben sich Mühe mit dem Sexleben – klappen tut es dennoch nicht so recht

von KOLJA MENSING

„In diesem Buch“, heißt es auf Seite 27, „geht es nicht um Sex.“ Das ist insofern eine erstaunliche Mitteilung, als auf den 26 Seiten davor ausführlich beschrieben wird, wie Moshe seiner Freundin Nana Handschellen anlegt, sie mit einem pinkfarbenen Bondage-Seil fesselt, beharrlich „ihr Arschloch leckt“ und dann versucht, sie anal zu penetrieren. Später werden darüber hinaus detaillierte Einblicke in die Technik des Fistings geboten und diverse andere stimulierende Praktiken für ein bis drei Personen vorgestellt, aber nein: „In diesem Buch geht es nicht um Sex. Es geht um Integrität, Anstand und Güte.“

„Strategie“ ist das überraschende Debüt des 1978 geborenen Engländers Adam Thirlwell. Der junge Londoner Schauspieler Moshe trifft nach einer Theateraufführung auf die Architekturstudentin Nana. Sie gehen ein paar Mal miteinander aus, küssen sich und werden ein Paar. Und natürlich schlafen sie auch miteinander: „Sie konzentrierten sich. Sie versuchten ja ein Sexleben zu entwickeln. Sie gaben sich alle Mühe.“ Unter anderem führen diese Bemühungen zu der eingangs erwähnten Szene, die allerdings aufgrund einiger technischer Probleme in „stinknormalem, heterosexuellem, vaginalem Geschlechtsverkehr“ endet. „Liebesgeschichten sind kompliziert“, denn: „Sie betreffen mehr als eine Person.“

In diesem Fall werden es sogar drei Personen. Doch auch als Anjali dazustößt und Moshe und Nana eine ménage à trois mit ihr beginnen, geben sich alle beim Sex zwar Mühe, glücklich werden sie damit allerdings nicht. Einmal zum Beispiel sitzt Moshe eingeschüchtert an seinem Schreibtisch, während Anjali im Doppelbett daneben einen Finger nach dem nächsten in Nana einführt. Moshe kann sich nicht entscheiden, ob er „unbeteiligt“ oder „aufgegeilt“ ist, Anjali lächelt verständnisvoll, und Nana muss an einen Artikel aus der Marie Claire denken, in dem es hieß, „dass man eine Faust nur durch einen Orgasmus wieder aus der Vagina frei bekommen“ kann. Und Nana hat Probleme mit dem Orgasmus … Liebesgeschichten sind kompliziert.

Adam Thirlwell hat mit „Strategie“ ein absolut zeitgemäßes Buch geschrieben, in dem er einen ernüchternden Blick auf die körperliche Liebe zu Beginn des 21. Jahrhunderts wirft. Romantik ist für seine Mittzwanziger nur eine „Frage der Strategie“ und Sex ein zuweilen unterhaltsames, oft aber auch anstrengendes „Spiel um Dominanz“. Doch selbst wenn Moshe in der schlecht ausbalancierten Dreierbeziehung „sexuell gesehen arm dran“ ist, stellt Thirlwell dieses Spiel nicht wie Michel Houellebecq mit kaltem Blick dem Kapitalismus als „zweites Differenzierungssystem“ an die Seite. Thirlwell interessiert weniger die „erbarmungslose Weise“ (Houellebecq), mit der der sexuelle Liberalismus ähnlich wie die Geldwirtschaft die Gesellschaft in Gewinner und Verlierer aufteilt, als die Ausweitung der Kuschelzone.

„Dieses Buch ist nett“, warnt der Erzähler, hinter dem der Autor sich gar nicht erst zu verbergen versucht: „In dieser Geschichte geht es um freundliches Entgegenkommen. Wenn meine Figuren in diesem Buch Sex haben, dann wie alles, was sie tun, aus moralischen Erwägungen.“ Nana zum Beispiel ist wirklich furchtbar nett. Sie möchte nicht, dass Anjali aus ihrer Beziehung zu Moshe ausgeschlossen wird, und als sie mit ihr schläft, ohne dass Moshe dabei ist, hat sie ein derart schlechtes Gewissen, dass sie ihrem Freund mit einer unartigen Szene im Bett eine Freude machen will, und „unartig sein, bedeutete Pissen“.

„Sie handelte altruistisch und ich muss sagen, wenn das Altruismus ist, hat Altruismus seine guten Seiten“, kommentiert Thirlwell das Plätschern des Morgenurins mit unverhohlenem Zynismus. Altruismus nämlich ist meist nichts anderes als eine Handlung, die in Wirklichkeit aus Eigennutz geschieht. Daher also ist „Strategie“ ein Buch, in dem es weniger um Sex geht (auch wenn das die amüsanteren Stellen sind) als tatsächlich um „Integrität, Anstand und Güte“ – und darum, was in ihrem Namen alles danebengehen kann.

Thirlwell hat sich aus einem reichhaltigen Anekdotenfundus bedient, um seiner Liebesgeschichte auf zugegebenermaßen verschlungenen Wegen eine gewisse philosophische Tiefe zu verleihen. In einem immer leicht belustigten Tonfall verteidigt er Ossip Mandelstam, der in einem Verhör gegenüber der sowjetischen Geheimpolizei ein wenig zu hilfsbereit Namen ausplauderte, bestätigt Milan Kundera in seiner Ansicht, dass Václav Havel ein „moralischer Exhibitionist“ sei, weil er sich während der sowjetischen Besatzungszeit in der Tschechoslowakei als Dissident geradezu darum gerissen habe, seine „Integrität unter Beweis“ zu stellen – und er berichtet, wie Stalin in einem höflichen Telefonat Michail Bulgakow dazu gebracht hat, nie wieder ein Buch zu veröffentlichen: „Telefon-Stalinismus ist der Einsatz von Freundlichkeit als Zwangsmaßnahme. Sie hilft der Kompromissbereitschaft etwas nach … Was die Freundlichkeit betrifft, sehe ich keinen Unterschied im individuellen Verhalten von Nana, Michail Bulgakow, Moshe, Anjali und Stalin.“

Es geht nicht um Sex. Es geht auch nicht um die Liebe. Es geht in Adam Thirlwells Roman darum, dass die Menschen „keine besonders intelligente Einstellung zum Egoismus haben“ und sich lieber freiwillig der Selbstzerstörung aussetzen, als sich eine moralisch nicht einwandfreie Haltung nachsagen zu lassen. Im Bett. Im Gulag. Oder im direkten Anflug auf das World Trade Center. Denn selbst der 11. September wird hier zur Anekdote: „Politics“ heißt dieses unglaubliche und vollkommen überzeugende Buch im Original.

Adam Thirlwell: „Strategie“. Aus dem Englischen von Clara Drechsel und Harald Hellmann. S. Fischer, Frankfurt a. M. 2004. 318 S., 18 €