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: Provozieren lernen mit Sokrates und Rainer Langhans

Ganz schön öde: so ein Leben ohne Denken. Training fürs Selberdenken bieten zwei Neuerscheinungen

In der fünften Klasse war das Thema Steinzeit dran, und ich musste die Werkzeugarten, Bauweisen, Tierarten abfragen. Man glaubt ja gar nicht, wie langweilig das ist! Von den paar Höhlenmalereien mal abgesehen, gab es damals offenbar fast nichts außer purer praktischer Lebensbewältigung. Warum ist etwas so und nicht anders? Welchen Sinn hat es? Wie wollte der Steinzeitmensch leben? Der Steinzeitmensch zuckt die Schultern und wendet sich wieder seinem Steinhammer zu. Warum nur müssen Kinder so etwas lernen? Oder ist das als Schocktherapie gedacht, damit sie merken, wie öde das Leben ohne das Denken ist?

Mit dem Denken aber ist es auch heute so eine Sache. Und das liegt keineswegs nur daran, dass derartige Anstrengungen eben nicht jedermanns Geschmack sind (siehe niedersächsischer Geschichtsunterricht in Klasse fünf). Selbst wenn man selber denken will, stellt man leicht fest, dass das nicht so einfach ist. Wie kommt man eigentlich zu einem eigenen Gedanken? Wie wird man frei von Vorurteilen und Denkschablonen? Und wie merkt man überhaupt, wann man selber denkt und wann man nur nachplappert?

Um diese Fragen zu beantworten, muss man, wie könnte es anders sein, seinen Kopf schon ein wenig anstrengen. Philosophie ist kein Kinderspiel, auch wenn die Kinder mit ihren unbefangenen Fragen immer als die idealen Philosophen hingestellt werden (könnte das etwa ein eigener, kritischer Gedanke sein?). Und deshalb sind die richtig guten philosophischen Bücher eher für junge Erwachsene gemacht. Das gilt auch für das Beste, was auf diesem Gebiet seit langem erschienen ist: Jens Soentgens „Praktiken der Philosophie“.

Das Buch ist tatsächlich so etwas wie ein kleiner Geniestreich. Denn im Gegensatz zu den meisten Philosophiebüchern, welche die einzelnen Denker und ihre Schulen vorstellen, geht es bei Soentgen um Denktechniken wie das Provozieren, Kombinieren, Parodieren, Präzisieren, oder er führt vor, wie man mit Demontage, Logik, Bildern und gedanklichen Experimenten zu guten Ergebnissen kommt. Entscheidend ist dabei einerseits, wie Philosophen mit diesen Praktiken gearbeitet haben, so dass man sich eine Menge abschauen kann. Andererseits findet der Leser das Gelernte nicht nur in zahlreichen Beispielen veranschaulicht, er kann das Philosophieren an ihnen geradezu trainieren. Im Kapitel über das Provozieren etwa geht es anfangs eher konventionell mit Sokrates und Diogenes zu den Kynikern. Doch dann schlägt Soentgen den Bogen zur Kommune 1 und zu den Verteidigungsreden von Teufel und Langhans vor Gericht, um dann zu erörtern, warum das Provozieren in unserer permissiven Gesellschaft so schwierig geworden ist.

Learning by doing – das haben sich auch zwei norwegische Philosophen zum Ziel gesetzt, indem sie den wiedergeborenen Sokrates in die Villa Kunterbunt verpflanzt haben. In Pippis Lebensstil und kecken Fragen entdecken sie Erörterungen über die Kritik der gesunden Vernunft, den Sinn von Sprache und sogar über Nietzsches Willen zur Macht. Das ist oft verblüffend. Nur manchmal läuft der Leser Gefahr, sich in den vielen Begriffen (von der Tabutheorie bis zur negativen Theologie) zu verheddern. Was aber nur ein kleiner Makel ist. ANGELIKA OHLAND

Jens Soentgen: „Selbstdenken! 20 Praktiken der Philosophie“. Peter Hammer Verlag, Wuppertal 2003. 223 S., 19,90 €ĽJørgen Gaare, Øystein Sjaastad: „Pippi & Sokrates. Philosophische Wanderungen durch Astrid Lindgrens Welt“. Aus dem Norwegischen von Gabriele Haefs. Verlag Friedrich Oetinger, Hamburg 2003. 272 S., 15,90 €